Das Mäuschen hatte sich auf die Hinterfüße gesetzt. Es machte sich so groß wie es konnte und versuchte, ganz oben über die Mauer zu sehen. Das hatte es schon oft versucht. Und jetzt war da plötzlich ein Loch in der Wand. Es schnuffelte. Das Näslein zitterte. Frau Hausmaus konnte sich nicht daran erinnern, hier jemals ein Loch gesehen zu haben. Wenn sie es recht bedachte, war in der ganzen Mauer noch überhaupt nie und nirgends auch nur eine einzige Öffnung gewesen.
Mäuslein war innen aufgewachsen. Außen war die Freiheit. Das sagten alle. Aber niemand von den Innenmäusen war wirklich einmal außen gewesen. Nicht einmal der Kater. Obwohl der ja sonst eigentlich überall schon mal gewesen war. Auf dem Frühstückstisch zum Beispiel. Und deshalb wusste er auch, wie Leberwurst schmeckte und Butter und Sahne. Das Mäuslein wusste das nicht. Aber sie war sicher, dass ihr das sowieso nicht schmecken würde. Der Kater allerdings fing immer an, sich das Schnäuzchen zu schlecken, wenn er davon erzählte. Und dann behauptete er jedes Mal, er heiße Mensch. Obwohl er ja eigentlich Sammy hieß. Aber wenn er sein Näslein in die Leberwurst steckte, schimpften Tim und Tom und riefen: „Mensch, Kater, das ist Menschenfutter. Geh da weg.“ Klar, dass er dann dachte, sein Name sei Mensch. War er aber nicht.
Das Glück ist immer auf der anderen Seite
Jedenfalls war nicht einmal der Kater jemals auf der anderen Seite der Mauer gewesen.
Es gab viele Geschichten über das Leben auf der anderen Seite. Die Farben seien dort bunter, das Gras grüner, hieß es. Die Welt sei voller Körner. Man brauchte sie bloß noch zu fressen. Gut, hungern musste hier ja auch niemand, aber Kirschen aus Nachbars Garten schmecken besser. Das weiß man ja. Die Welt der Außenmäuse hat keine Grenzen. Keine echten jedenfalls. So wurde es erzählt. Und wenn da doch mal eine sein sollte, fliegt man mit dem Flugzeug drüber. Man braucht auf der anderen Seite auch keine Angst vor Katzen, Marder oder Hunden zu haben. Drüben leben alle friedlich miteinander. Selbst, wenn man sich über die größte Katze ärgerte, dürfte man das laut und deutlich sagen, ohne dass einem irgendetwas passierte. Und Großmutter Maus hatte den Kindern sogar erzählt, es gebe dort Feen und Elfen. Und wer immer einen Elf oder eine Fee singen hören würde, dürfte sich etwas wünschen, was dann in Erfüllung geht. Glück ist immer auf der anderen Seite.
Und jetzt war da ein Loch in der Mauer. Mäuslein hatte es genau gesehen und es war sehr aufgeregt. Inzwischen hatte sich die Neuigkeit bei den Innenmäusen herumgesprochen und immer mehr waren zur Mauer gekommen.
Eine andere Perspektive – neue Impulse
„Traust du dich, da durchzugehen?“ das Mäuslein neben Frau Hausmaus war noch klein. Ehrfurchtsvoll guckte sie zu der großen grauen Maus.
„Ja klar …“, Mäusleins Blick schien verträumt. Ihr war es bei den Innenmäusen schon lange zu eng geworden. Und sie war neugierig. Wollte die große weite Welt und andere Mäuse kennen lernen. Mäuse, die anders lebten, anders dachten, weil sie eine andere Perspektive hatten, die Welt mit anderen Augen sahen. Über den Tellerrand gucken, um den eigenen Horizont zu erweitern, Denkanstöße, neue Impulse zu bekommen. „Ja, ich glaube, ich muss da durch“, sagte sie entschlossen, als die ersten schon ihre Näschen durch das frische Loch gesteckt hatten.
Frau Hausmaus trippelte hinterher. Ein, zwei Schritte noch – und dann war sie durch. Schnuffelte. Roch es anders? Vielleicht ja. Nach Benzin. Es war laut. Alle rannten durcheinander. Mäuslein versteckte sich hinter einer Mülltonne. Erstmal abwarten, dachte Frau Hausmaus. Sicher ist sicher.
Äpfel oder Bananen?
Das Innenmäuslein beobachtete die Außenmäuse, die an jeder Ecke standen und den neu ankommenden Innenmäusen Bananen schenkten. Das einzige Obst, was Frau Hausmaus bisher gern gegessen hatte, waren Äpfel. Die gab es immer und überall. Diese krummen gelben Teile kannte sie nur aus Büchern. Weil sie aus der großen weiten Welt kamen und die war bei den Innenmäusen nun mal nicht. Als alle Bananen verteilt waren, gingen die Außenmäuse schließlich in den Innenteil des Landes. Aus zwei kleinen Mäusewelten wurde plötzlich eine große. Innen und außen gab es nicht mehr.
Frau Hausmaus freute sich riesig. Über die Freiheit und dass sie nun alles sagen durfte, was sie wollte, alles essen, alles wissen durfte. Und auch hingehen konnte, wo sie wollte. „Meine Meinung? Sag ich jetzt einfach immer und jedem.“ Hocherhobenen Hauptes stolzierte sie davon.
„Ach Mäuslein, du musst noch so viel lernen …“
„Ach Mäuslein, du musst noch so viel lernen…“ Hanne Hausmaus war diesen Satz langsam leid. Wieso ich? Dachte sie. Immer soll ich diejenige sein, die irgendwas lernen sollte. Warum müssen die Außenmäuse denn nichts lernen? Ist das, was wir innen gelernt haben, denn überhaupt gar nichts wert? Bei uns war einer für den anderen da. Wir haben einander geholfen. Jeder konnte zur Schule gehen, Bildung war selbstverständlich, Menschlichkeit und Nächstenliebe. Und das ist jetzt nichts mehr wert? „Ach Mäuslein, du musst noch so viel lernen…“ Ja, was soll ich denn lernen? Wie man redet, ohne was zu sagen? Ich dachte, hier kann jeder seine Meinung sagen und keine Maus beißt da einen Faden ab. „Ja, man kann und darf alles sagen, aber deshalb muss ich noch lange nicht deiner Meinung sein“, bekam das Mäuslein immer wieder zu hören. Man wird zwar nicht gleich von der Katze gefressen, wenn man klar und deutlich sagt, was man denkt, aber der einzige Kommentar ist und bleibt: „Ach Mäuslein, du musst noch so viel lernen.“
Selber denken?
Früher bei den Innenmäusen gab es einen Bestimmer. Alle Mäuse haben getan, was der gesagt hatte. Jetzt bei den Außenmäusen ist irgendwie jeder Bestimmer. Wenn wir tun, was die sagen, ist das falsch. Wir sollen selber denken, heißt es. Aber wenn wir selber denken und auch bestimmen wollen, macht niemand, was wir sagen. Die anderen sind lauter. Und mehr. „Ach Mäuslein, du musst noch so viel lernen…“
Und dann soll ich dankbar sein. Dafür, dass wir Bananen bekommen haben, als wir uns durch das Loch zu den Außenmäusen hindurch gearbeitet haben. Dafür, dass ich jetzt zwar meine Meinung sagen darf, die dann von den Außenmäusen belächelt wird. Dafür, dass mir jetzt niemand mehr sagt, was ich zu tun hab, das, was ich dann tue, aber trotzdem falsch ist. Und Omas Feen und Elfen hab ich auch nicht gefunden.
Bananen sind aus
Neuerdings kommen eine Menge kleiner brauner Feldmäuse zu uns, die von Sicherheit und Freiheit träumen. Sie waren auf der Flucht vor Raubvögeln, die ihre Nester kaputt gemacht und dann eine Maus nach der anderen erst gejagt und dann gefressen haben. Es tut uns ja auch leid, aber wir haben eigentlich keinen Platz mehr. Und Bananen sind aus. Wenn sie wirklich bleiben wollen, müssen sie noch ganz schön viel lernen. Vor allem müssten sie sich das Wühlen abgewöhnen. Aber wir würden ihnen schon helfen.