Von Busfahrern und Pubertisten
380 Kilometer. Tom hatte es geschafft. Er war den ganzen Moselsteig gegangen. Von Perl am Dreiländereck bis nach Koblenz, wo die Mosel in den Rhein mündete. Schon vor der Reise war klar: In Koblenz würde Tom nach einem Comicbuchladen Ausschau halten. Vielleicht würde er dort ein paar Exemplare für seine Sammlung finden.
Sie fuhren mit dem Bus.
Ein Pubertist
Vierzehn Jahre, vielleicht fünfzehn – älter war der Junge sicherlich nicht, der da im Bus auf dem Behindertensitz Platz genommen hatte. Ein Pubertist. Tom und Josefine saßen ihm gegenüber Platz. Sie gehörten da nicht hin. Der Teenager saß auf dem Platz am Gang und starrte auf seine Fußspitzen. Den Fensterplatz hatte er frei gelassen.
„Kannst du vielleicht einen Platz weiterrücken?“, fragte ihn eine etwa Mitte Dreißigjährige Frau. Der Junge schüttelte energisch den Kopf, hob die Beine an, um die Frau vorbeizulassen. Er hob den Kopf kein einziges Mal, sah nicht hoch.
Die Frau zuckte die Schultern und ging in den hinteren Teil des Busses.
„Kannst du bitte einen Platz weiter rücken?“ Die junge Mutter suchte nach einem Platz für ihre zwei kleinen Kinder. Möglichst so, dass sie alle zusammenbleiben konnten.
Der Junge sah wieder nicht hoch und schüttelte stattdessen energisch den Kopf.
Die Frau fand für ihre beiden Kinder einen anderen Platz.
„Kannst du bitte einen Platz weiter rücken?“ Die Frau war etwas älter. Vielleicht in Josefines Alter. Sehr stabil. Sie sah den Jungen an. Der schüttelte wieder den Kopf.
„Jetzt stell dich mal nicht so an. Rutsch mal rüber.“
Der Junge schüttelte weiter.
„Ich sprech mit dir.“ Die Frau wartete ziemlich unmissverständlich auf Antwort. „Hörst du mich?“
„Ich muss doch am Bahnhof aussteigen“, sagte der Junge nun zaghaft.
„Na dann rutsch mal – ich muss noch vor dir raus.“
Der Junge rutschte rüber.
„Zeitgeist“ – ein Comicbuchladen wie im Bilderbuch
Der Comicbuchladen „Zeitgeist“ in Koblenz war genau so, wie Tom sich einen Comicbuchladen vorgestellt hatte. Man wusste kaum, wohin man zuerst gucken sollte, welchen Band man zuerst in die Hand nehmen, welche Seiten man umblättern sollte.
Man konnte sich hier festlesen.
Als sie zurück zum Bus gingen, hatten sie die Taschen voller klassischer und neuer Comics, Graphic Novels, Gezeichnetes, Skizziertes, Fantasie und Science Fiktion, Gesellschaftskritisches und Witziges.
Stau im Bus
Drei sehr junge Mütter hatten ihre Kinderwagen im Mittelteil des Busses geparkt. Vorne kam niemand mehr weiter als bis zum Busfahrer. Der Rest der Fahrgäste, beziehungsweise denen, die es werden wollten, mussten leider draußen bleiben. Es ging nicht weiter.
Der Busfahrer starrte angestrengt in seinen Rückspiegel. Dann stand er auf, bruddelte etwas wie „So geht das nicht“, ging nach hinten und schaffte Ordnung.
Die Fahrgäste konnten weiter durchgehen. Problemlos. Hinten war viel Platz. Es gab sogar noch Sitzplätze.
Tom und Josefine saßen quer zu den anderen. In der letzten Bank drei Jungen im Pubertistenalter.
„Ich trag nur Jack Jones“
„Ich trag nur Jack Jones“, sagte der Mittlere und zog die Etiketten aus T-Shirt und Hose. „Ich auch“, stellte der linke klar und wandte sich wieder seinem Smartphone zu. Der Schriftzug des Klamottenherstellers prangte quer über dem weißen Polo-Shirt.
„Und nun komm ich“, meldete sich der Rotschopf am rechten Fensterplatz zu Wort. „H&M, H&M, H&M …“ Seine Wurstfinger zeigten auf alle Einzelteile, die er auf dem Körper trug.
Klostein-Aroma
Währenddessen hatte der mittlere der Jungs eine Dose hervorgekramt. „Rauchen gefährdet die Gesundheit“, stand drauf. Er schraubte den Deckel ab. Man sah eine braune feuchte weiche Masse. Appetitlich ist anders, dachte Josefine und verzog das Gesicht. Es roch wie – sie überlegte, woher sie den Geruch kannte – Klostein?
„Das ist Shisha-Tabak“, klärte Tom sie auf.
„Gut dass ich das Zeug nicht rauchen muss.“ Sie hoffte, dass der Typ die Dose möglichst bald wieder zudrehte. Das tat er auch. Um sie wenige Minuten später wieder zu öffnen.
Feuerzeug mit Haut und Haar
Währenddessen hatte der etwas pummelige Kerl mit den roten Haaren ein Feuerzeug gefunden, mit dem er spielte. Er ließ die Flamme über seine Finger züngeln. Es roch ein bisschen nach verbrannter Haut.
„Gib mal“, forderte der Typ mit der Tabakdose seinen Kumpel auf. Als der das Feuerzeug nicht aus der Hand geben wollte, versuchte er, es sich zu nehmen. Es wurde turbulent auf dem Rücksitz. Und es roch nach verbrannten Haaren. Den Haaren der Waden des Rotschopfs.
Hoffentlich muss ich nicht eingreifen, dachte Josefine. Sie überlegte, womit sie notfalls die Jungen löschen könnte, sollten sie Feuer gefangen haben. Sie würde ihr T-Shirt nehmen. Notfalls. Jedenfalls nicht die Comics.
Dann stiegen die Drei aus.
Vollgas nach Burgen
„Der Busfahrer ist ziemlich zügig unterwegs“, sagte Josefine zu Tom, während sie krampfhaft versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Sie fuhren über die Landstraße. Der Fahrer gab Vollgas. Er schien Zeit gut machen zu wollen. Schließlich hatte er einen Fahrplan einzuhalten. Am Ortseingang, kurz bevor er die nächste Haltestelle erreicht hatte, fand er die Bremse. Das Fahrzeug kam unmittelbar zum Stehen, erlöste einen Teil der Fahrgäste, indem er sie aussteigen ließ und trat anschließend gleich wieder aufs Gaspedal.
Ich will hier nur noch raus, dachte Josefine. Normalerweise fuhr sie gerne mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Mit anderen. Mit diesem nicht.
Dann erreichte der Bus Burgen.
Josefine war erlöst.