Ostern in die Wüste?

Josefine hatte die Schildkröte gefüttert und Kaffee gekocht.Viel zu packen gab es nicht. Das Dipamobil stand immer abreisefertig vorm Haus.
Ein paar Unterhosen vielleicht. T-Shirts und Socken. Eben das, was man täglich nach dem Duschen wechselte. Falls es eine Dusche gab.
Josefine setzte sich mit ihrem Kaffee an den Tisch und blätterte in den Prospekten mit Reisetipps, die sie und Tom im Februar von der CMT mitgebracht hatte. Für alle Fälle.
Jetzt war es Ende März. Ostern. Der Blick aus dem Fenster sah nicht sehr vielversprechend aus. Regentropfen glänzten auf den wenigen grünen Grashalmen auf der Wiese. Der Rest war grau. Himmel grau, blattlose Bäume grau, vertrocknete Blätter, die vom Herbst liegengeblieben waren – grau.
Manchmal fiel ein Regentropfen von den vertrockneten Zweigen.
Josefine seufzte und trank noch einen Schluck Kaffee.

„Wir müssen weg“, erklärte sie der Schildkröte, die im Terrarium auf der Anrichte mit einem Salatblatt beschäftigt war. Das Tier wohnte schon länger hier als Tom und Josefine. Die Vorbesitzerin hatte das Terrarium bei ihrem Auszug einfach stehen lassen. Das war inzwischen 25 Jahre her. Josefine hatte das Tier Minna getauft. Sie fand das passte. Dabei wusste sie eigentlich nicht einmal, ob das Tier nun männlich oder weiblich war. Aber im Grunde spielte das auch keine Rolle. Die Schildkröte war Minna. Punkt.

„Guten Morgen“, begrüßte Tom sein Weibchen, schnappte sich ein Kaffeetasse und setzte sich Josefine gegenüber an den Küchentisch.
Neugierig schielte er auf die Zettel, die sie vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Prospekte von Campingplätzen, Rad- und Wanderwegen in Rheinland-Pfalz, dem Saarland, aus Trier, von der Mosel konnte er erkennen.
„Ich dachte, du wolltest mit mir in die Wüste?“, fragte er verwundert.

Deutschland hat eine Wüste. In Brandenburg, nicht weit weg von Berlin gab es die Lieberoser Wüste, eine etwa fünf Quadratkilometer große sandige Fläche, auf der nach einem Waldbrand 1942 nie wieder etwas gewachsen war. In der Zeit der sowjetischen Besatzung hatten die Russen die Fläche als militärisches Übungsgelände genutzt, was auch weiterhin verhindert hatte, dass hier irgendetwas gedeihen konnte.
Man nannte die Gegend auch Klein Sibirien, was Josefine fasziniert hatte.
Tom wollte die Landschaft sehen, wollte wissen, wie so eine Wüste mitten in Deutschland aussah. Von da aus konnte man weiterfahren nach Wittemberge, der Stadt, in der ein Teil von Josefines Familie 1945 bei einem amerikanischen Bombenangriff in einem Luftschutzkeller verschüttet worden war.
Das war der Plan.
Aber nun wollte Josefine scheinbar nicht mehr in die Wüste.
„Ich weiß nicht, ob ich bei dem Wetter da hin mag.“
Josefine sah ihren Lieblingsehemann zweifelnd an. „Mein Internet sagt weiße Ostern für die Gegend voraus. Vielleicht ist das Wetter woanders besser.“
Tom schnappte ich sein Tablet, klickte hier, wischte da und sagte dann: „Mosel. Lass uns an die Mosel fahren.
„Trier“, strahlte Josefine und zog einen Flyer aus dem Haufen. Da gibt es eine Karl Marx-Ausstellung. Das geht auch bei schlechtem Wetter. Lass uns frühstücken und dann fahren wir los.“ Josefine freute sich.

Minna nicht. Sie sah die Reise ihrer beiden Versorger mit gemischten Gefühlen und dachte nach, während sie an ihrem Salatblatt nagte. Dass sie verhungern würde, befürchtete sie nicht. Tom und Josefine würden ja nur drei Tage weg sein. Und sollte es während dieser Zeit keine gefüllten Futternäpfe geben, würde sie das überleben. Sie aß schließlich oft sehr viel länger nicht. Im Winter zum Beispiel. Da aß sie nämlich überhaupt nichts. Da schlief sie. Die Menschen nannten es Winterstarre. Aber sie fand, sie schlief. Es fühlte sich zumindest genau so an.

Auch gegen Karl Marx hatte sie im Grunde nichts. Seine Ideen fand sie gar nicht so schlecht. Nur hatten sie leider nie funktioniert. Vor 200 Jahren nicht und jetzt auch nicht. Weil Menschen eben nicht so sind. Sie schienen immer Angst zu haben, dass man ihnen etwas wegnehmen könnte. Dabei war doch genug für alle da, da war sie sicher. Man müsste es nur anders verteilen. Aber im Grunde verstand sie davon ja nichts. Sie war eine Schildkröte.
Minna hatte auch keine Bedenken, dass Josefine etwas passieren konnte, weil sie Diabetikerin war. Das war sie schließlich schon lange. Sie war für Minnas Geschmack manchmal ein bisschen zu unbekümmert und manchmal auch ein bisschen ungeschickt, aber bis jetzt war schließlich immer alles gut ausgegangen und das würde es auch weiterhin.
Diese Reise würde anders sein. Sie würde Tom und Josefine nicht aufhalten können. Das wusste sie. Die beiden würden fahren.

„Schau mal Minna an“, sagte Josefine, während sie genüsslich an ihrem Brötchen kaute. „Hast du nicht auch das Gefühl, sie starrt uns an?“
„Das kennst du doch schon“, grinste Tom und zuckte mit den Schultern.
„Manchmal hab ich das Gefühl, sie möchte uns irgendwie hypnotisieren. Sie liest unsere Gedanken und dann hält sie still und hofft, dass wir ihre lesen“, sinnierte sie, seufzte, zuckte mit den Schultern und biss noch einmal in ihr Brötchen.
„Du bist ein Träumerle“, schmunzelte Tom und sah sein Weibchen an. Er glaubte an Fakten. Der sachliche Naturwissenschaftler. Sie war die kreative Künstlerin. Mit einem Kopf wie eine Wundertüte: In jeder Ecke eine andere Überraschung. Und dafür liebte er sie. Auch wenn er nicht alles verstand, was in ihr vorging.

Während Tom das Frühstücksgeschirr wegräumte, das restliche Brot, Butter und den Käse ins Dipamobil räumte, sammelte Josefine ihre Siebensachen zusammen, die sie mitnehmen wollte: Block und Stifte, eBook, Tablet.

Das Handy war wichtig, weil Josefine damit auch ihren Blutzucker messen konnte. Mit der App konnte sie den Glucosesensor scannen, der momentan an ihrem Brustansatz klebte und alle zwei Wochen seinen Platz wechselte. Katheter und Reservoire für die Insulinpumpe mussten mit und ein normales Blutzuckermessgerät mit Teststreifen für alle Fälle. Falls mal etwas kaputt ging.
Gummibärchen, Maoam und Traubenzucker brauchte sie für Wanderungen. Manchmal reichte es eben nicht, nur die Insulinabgabe der Pumpe herunterzusetzen, wenn sie nicht in eine Hypo, eine Unterzuckerung, rutschen wollte. Denn die fühlte sich ganz und gar nicht gut an. Man wurde fahrig, unkonzentriert und war gar nicht mehr sicher auf den Beinen. Wenn es ganz dumm kam, konnte es in Hilflosigkeit, Bewusstlosigkeit oder sogar … Josefine wischte den Gedanken beiseite. Das war ihr in den vergangenen vierzig Jahren noch nie passiert und würde es auch weiter nicht.
Sie verstaute alles in die Schrankfächer im Bus. Das Insulin war noch im Kühlschrank. Da konnte es auch noch bis zur Abfahrt bleiben. Schließlich sollten noch mehr Dinge aus dem Küchenkühlschrank in den Reisekühlschrank wandern.

„Tschüss Minna“, sagte sie schließlich, streichelte der Schildkröte noch einmal übers Köpfchen. „Du brauchst nicht so skeptisch zu gucken. Wir sind bald wieder da“, lachte sie. „Du wirst schon nicht verhungern. Jan guckt nach dir.“
Minna starrte Josefine weiter an.
Jan, dachte sie. Ein lieber Kerl. Manchmal hatte er andere Dinge im Kopf. Dann gab es nur jeden zweiten Tag etwas zu fressen. Aber im Grunde reichte ihr das ja.
Sie drehte sich um und ließ sich in das kleine Wasserbecken in ihrem Terrarium plumpsen.

Filderstadt stand auf dem Wegweiser. Josefine und Tom saßen in ihrem Bus auf dem Weg nach irgendwo an der Mosel. Tom war am Steuer, Josefine hatte eine Broschüre in der Hand, in der Campingplätze verzeichnet waren.
„Möchtest du nach Pisspott oder lieber nach Baunberg“, fragte sie und prustete los.
„Wir sind ein bisschen albern heute?“, fragte Tom und grinste dabei von einem Ohr um anderen.
„Das ist doch witzig! Pisspot und Braunberg …“ Die letzten Worte kitzelten schon wieder in Josefines Nase und sie kicherte.
Doch dann wurde sie plötzlich ernst.
Josefine sah auf ihre Hände. Man konnte sehen, wie es in ihrem Gehirn arbeitete.
„Liebling …“, begann sie zögernd und sah ihren Gatten von der Seite an.
„Ja …?“ Tom wartete erstmal ab, was da nun kam.
„Wir müssen umkehren.“
„Quatsch“, grinste Tom. „Warum das denn?“
Er war überzeugt davon, dass von seinem Weibchen wieder irgendein Unsinn kam. Er kannte das schon. Manchmal war sie albern.„Nein, ich meine es ernst“, gestand sie. Ich hab mein Insulin vergessen.“
Einen Moment war es still im Bus.
„Ist das dein Ernst?“ Tom sah Josefine zweifelnd an.
„Ja“, antwortete Josefine kleinlaut.
„Wie kann man sein Insulin vergessen! Ich versteh es nicht! Insulin! Das ist schließlich nicht irgendetwas, das man mitnehmen kann oder auch nicht. Es ist lebenswichtig!“
Tom schüttelte den Kopf.

Er verstand es wirklich nicht. Ihm würde das nie passieren. Alles, aber doch nicht die wirklich wichtigen Dinge. Josefine war da anders. Ein bisschen verträumt, oft mit den Gedanken in einer völlig anderen Welt. Und dabei meistens entspannt. Irgendetwas würde sich immer finden, davon war sie in ihrem tiefsten Herzen überzeugt.
Sie waren erst zwanzig Kilometer von Zuhause entfernt. Sie konnten umkehren. Wenn das nicht möglich gewesen wäre, hätte es einen Arzt gegeben, eine Apotheke und Ostern schlimmstenfalls eine Klinikambulanz, die ein Rezept ausstellen konnte.

Es war nicht das erste Mal, dass Josefine etwas Ähnliches passiert war. Das letzte Mal war sie auf einer Raststätte in der Nähe von Göttingen, als Josefine feststellte, dass sie die falschen Insulinpatronen eingepackt hatte. Sie hatte eine Klinikamblanz gefunden, die ihr das richtige Insulin verschrieben hatte und alles war gut.
Es gab immer eine Lösung. Darauf vertraute Josefine.
Tom dagegen fand es schwierig. Er hatte das Gefühl, er war dann meistens derjenige, der die Lösung finden musste. Er schüttelte den Kopf, seufzte noch einmal tief und drehte um.