Kopfsteinpflaster und Kaubonbons
Bernkastel-Kues. Eigentlich waren es Bernkastel und Kues. Der Bindestrich dazwischen war die Mosel. Vielleicht auch die Brücke darüber.
Es gab windschiefe alte – vermutlich historische – Häuser, schiefe schmale Straßen aus Kopfsteinpflaster, machmal steil nach oben. Oder nach unten. Je nachdem, woher man kam.
„Rechts oder links?“, fragte Tom mit einem Grinsen im Gesicht.
Entspannt sah er aus, fand Josefine. Es stand ihm gut.
„Ich weiß nicht.“
Josefine war stehen geblieben.
„Warte mal …“
Sie nestelte ihr Handy aus der Anorakasche, schaltete es ein und zog es über den Glukosesensor, der zur Zeit in ihrer Brust steckte.
54 mg/dl meldete das Ding. Mit einem Pfeil nach unten. Der Wert würde also noch weiter sinken. Das würde er auch dann noch tun, wenn sie sofort Traubenzucker in sich hineinstopfte.
Josefine seufzte.
Traubenzucker.
Sie konnte das Zeug nicht mehr sehen. Obwohl es natürlich am schnellsten wirkte.
Und jetzt musste es schnell gehen. Eine Ohnmacht wäre jetzt blöd. Mitten in Bernkastel-Küs. Im Oster-Touristengewimmel.
Traubenzucker oder Maoam?
„Alles ok?“, fragte Tom skeptisch und lief die paar Meter, die er vorausgegangen war, wieder zurück.
„Ja, alles gut“, winkte Josefine ab.
Sie hatte eine Packung Maoam in den Tiefen ihrer Jackentasche gefunden und versuchte, das Zuckerzeug auszuwickeln. Es klebte fest am Papier. Schließlich stopfte sie sich den ersten Bonbon in den Mund. Ein zweiter folgte. Der dritte wehrte sich. Josefine betrachtete das Ding, pulte an einer Ecke, suchte eine andere. Mit dem nächsten Schritt verlor sie den Boden unter den Füßen. Sie hatte die Stufe nicht gesehen, war viel zu sehr mit der klebrigen Maoam-Masse beschäftigt gewesen.
Hundert Kilo landeten ungebremst auf dem Kopfsteinpflaster.
Ein Maikäfer auf den Rücken, dachte Josefine, ich liege hier wie ein Maikäfer auf den Rücken. Dann musste sie grinsen.
Vor ihr stand ihr sie liebender Ehemann, hielt ihr die Hände hin, wollte ihr aufhelfen.
Hinter ihm ungefähr zwei Dutzend Touristen im Halbkreis, versunken in das Schauspiel, das sich ihnen bot.
Zwei Dutzend Touristen im Halbkreis
„Sie können weitergehen“, giftete Josefine und setzte sich auf. „Es ist nichts passiert. Es geht mir gut.“
Die Leute blieben trotzdem stehen.
Josefine setzte sich auf die Stufe, über die sie gestolpert war und wickelte weiter Maoams aus.
Die rechte Schulter tat weh, das rechte Knie.
„Komm, ich helf dir hoch“, bot Tom an und sah besorgt auf seine Gattin.
„Lass mich einfach noch ein paar Minuten hier sitzen“, bat sie. „Mir ist noch ein bisschen schwummerig.“
Tom guckte skeptisch, legte seinen Kopf schief. Er grinste.
„Du sitzt in Hundepipi“, sagte er dann. „Komm, lass uns woanders sitzen.“
Josefine seufzte, ließ sich dann aber doch aufhelfen. Hundepipi unterm Hintern war nicht angenehm.
Tom fand einen Tisch für zwei vor einer Weinstube. Es gab Traubensaft für Josefine, damit der Zuckerwert endlich da landen konnte, wo er hingehörte: Irgendwo zwischen 80 und 120 mg/dl. Oder ein bisschen höher. Damit noch etwas Spiel nach unten war, wenn sie auch weiterhin noch in Bewegen sein würde.
Josefine betrachtete ihre Blessuren.
Die Knöchel waren aufgeschürft. Blut floss keins. Die Schulter tat weh, das Knie hatte vermutlich unter der Jeans einen blauen Fleck.
„Du hättest die Maoams nicht so krampfhaft festhalten sollen“, grinste Tom. „Dann hättest du dich sicher noch auffangen und das Gleichgewicht halten können. Aber du wolltest die Dinger ja nicht loslassen.“
Josefine zuckte die Schultern. Das ging ohne Schmerzen.
„Ist ja nichts passiert“, sagte sie dann.
„Da waren wir schon mal“
Eine Weile saßen sie schweigend am Tisch. Die Sonne schien, der Rose prickelte, der Saft schimmerte golden. Touristen schlenderten an ihnen vorbei und etwas oberhalb mitten in den Weinbergen sah man die Burg Landau.
„Da waren wir schon mal“, sagte Tom und zeigte auf die Bug. „Weißt du noch? Da waren wir mit den Motorrädern unterwegs.“
Josefine lächelte versonnen. Sie dachte an die Motorradtour vor ein paar Jahren, als sie irgendwo ganz privat bei wildfremden Leuten übernachtet hatten. Tom hatte nach dem Weg gefragt und das Pärchen hatte ihnen ganz spontan ihr Gästezimmer angeboten und sie zum Abendessen in das Gasthaus eines Campingplatzes geschickt. Da war der Wirt an ihren Tisch gekommen und hatte erkärt: „Ich hab gehört, einer von euch spielt Klaiver.“ Dann hatte er sich umgedreht und auf den Kasten in der Ecke gezeigt. „Da steht es.“
Tom hatte Josefine angesehen und gegrinst. Josefine hatte sich überrumpelt ans Klavier gesetzt und gespielt, was die Gäste wollten.
Schließlich hatte das ganze Lokal mit ihr Beatles-Songs und Lagerfeuerlieder aus den 70er und 80er Jahren mitgesungen.
Das Glas Wein auf dem Klavier war nie leer geworden und irgendwann hatte Josefine Mühe, die Tasten auseinanderzuhalten. Zeit, das gastliche Haus zu verlassen.
Sie hatte vom Klavier hochgesehen und fand sich umringt von lauter zufrieden lächelnden Leuten.
Glücklich waren Tom und Josefine irgendwann in ihr Gästezimmer zurückgewankt.
Das gemeinsame Frühstück mit den Gastgebern am nächsten Morgen hatte sich angefühlt wie ein Frühstück zu Hause bei Freunden.
Die Menschen hier in der Gegend waren sympathisch, Josefine und Tom dachten gerne an ihre Moseltour damals zurück.
Der Moselsteig: ungefähr 380 km lang
„Da oben führt der Moselsteig vorbei“, sinnierte Tom und holte damit Josefine wieder zurück in die Gegenwart. „Ungefähr 380 Kilometer ist er lang“, erinnerte er sich, das damals schon gelesen zu haben. „Ich glaube, den muss ich auch noch mal gehen.“
„Weißt du was?“ Josefine hatte eine Idee. „In zwei Wochen haben wir Urlaub. Wir fahren an die Mosel. Du läufst den Moselsteig und ich bin dein Begleitfahrzeug mit dem Reisemobil im Tal. Ich guck mir hier unten die Welt an, recherchiere ein bisschen und schreibe eine Moselgeschichte. Nach deiner Moselwanderung bist du fit für en GR20 auf Korsika und brauchst dir keine Gedanken mehr übers Training zu machen.“
Tom war begeistert.
Hand in Hand liefen sie schließlich an der Mosel zurück nach Welen, wo ihr Räderhäuschen auf dem Campingplatz auf sie wartete.
Paraglider im Weinberg
„Guck mal“, rief Josefine plötzlich. Auf der anderen Moseluferseite schwebte ein Paraglider über den Weinbergen.
Dann war er plötzlich verschwunden.
„Wo ist er denn jetzt abgeblieben?“, wunderte sich Josefine. „Der wird ja wohl nicht in den Weinreben gelandet sein. Da ist doch überhaupt kein Platz! Da spießt der sich ja auf!“
„Guck, da ist ein Sportplatz. Da wird er seinen Drachen hinlenken und runtergehen.“
„Ich seh ihn aber nicht!“
Tom zuckte die Schultern.
„Dann ist er halt woanders.“
Es war ihm egal.