Josefine sortiert Zettel

Das Making-Off

Josefine sortiert Zettel

Josefine liebte sie, die ersten Stunden des Tages.
Besonders sonntags.
Niemand war unterwegs. Keine Schulkinder kabbelten sich an der Bushaltestelle, kaum ein Auto fuhr durch die Leopoldstraße, es war einfach still.
Vor dem Fenster neben Josefines Lieblingsplatz saß eine Meise im Pflaumenbaum, der inzwischen alle Blätter verloren hatte und schaute herein. Das Kätzchen hatte es sich auf der Fensterbank gemütlich gemacht und beobachtete den Vogel mit schräg gelegtem Köpfchen. Sie verfolgte mit den Augen jede seiner Bewegungen.
Minna saß in ihrem Terrarium auf ihrem Platz an der Sonne, kaute genüsslich an einem Salatblatt, das sie unter einem Stein gefunden hatte und beoabchtete den Tag.
Es ging ihr gut.
Sie war jetzt berühmt. Viel berühmter als die Katze, die in Josefines Buch nur eine kleine Nebenrolle bekommen hatte.
Minna dagegen war der Star.
Sie war von Anfang an in der Geschichte, die Josefine geschrieben hatte, dabei gewesen. Sie oder eine ihrer Vorfahren. Genau wusste man das nicht. Aber es war auch nicht so wichtig. Minna war die Schildkröte, die Wilhelmines Leben kommentiert und sich manchmal auch in die Gedanken der Protagonisten geschlichen hatte.
Jetzt war sie gespannt, wie die Geschichte weiter ging.
Und ob die Geschichte weiter ging.

Von Anfang an dabei

Josefine hatte es sich mit einem Tee am Küchentisch gemütlich gemacht.
Sie hatte das Notebook aufgeklappt und starrte auf das leere Dokument.
Eine Geschichte sollte sie schreiben.
Über den heiligen Martin.
Das hatte sich Conny gewünscht, mit der sie gemeinsam am 11. November ein Frauenfrühstück veranstalten wollte.
Conny rechnete mit etwa 45 Frauen. So viele seien bisher jedes Mal dagewesen, hatte sie erzählt.
Ob Josefine ihr Buch mitnehmen sollte?
Durfte?
Ein bisschen Werbung machen konnte?
Ein Jahr hatte es gedauert bis „Minnas Buch“ fertig war. Inzwischen war es gedruckt und ausgeliefer, war im Buchhandel und in allen Online-Buchshops verfügbar.

Die Fortsetzung

Und nun?, dachte Josefine.
Was mach ich nun damit?
Nix, fand Minna. Es ist fertig. Aber sie sagte natürlich nichts. Denn erstens hatte Josefine ihre Gedanken gar nicht ausgesprochen, so dass Minna sie gar nicht hätte hören können und selbst wenn sie gehört hätte, was Josefine gedacht hatte, hätte sie nicht antworten können. Schildkröten können das nicht.
Minna hielt Sprache auch für vollkommen überflüssig. Sie kam gut ohne aus. Es gab andere Kommunikationsmöglichkeiten.
Schreib einfach ein neues Buch, hätte Minna nun doch gern gesagt. Doch sie kaute stattdessen weiter auf ihrem Salatblatt herum und öffnete ihr kleines Mäulchen nur, um noch ein weiteres Stück von dem Blatt abzureißen.
Aber wenn du weiter schreibst, dachte sie, möchte ich bitte auch wieder drin vorkommen.
Minna machte den Gedanken ganz rund und groß in ihrem Kopf, so dass er fast die ganze Schildkröte ausfüllte und starrte Josefine an.
Ich könnte die Fortsetzung schreiben, sinnierte Josefine und dachte an ihren Vater.
Vor vielen Jahren hatte er ihr zehn eng beschriebene Schreibmaschinenseiten in die Hand gedrückt und gesagt: „Fienchen, hier sind meine Memoiren. Ich lege sie in deine Hände. Du kannst schreiben. Mach was draus.“
„Zehn Seiten?“, hatte Josefine damals ungläubig gefragt. „Du hast doch viel mehr erlebt als das, was auf zehn Seiten passt!“
Ihr Vater hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Ich vertrau dir. Mach was draus.“
Sie hatte die Blätter damals zur Seite gelegt.
Nachdem ihre Eltern gestorben waren und Josefine ihr Elternhaus ausräumen musste, hatte sie unzählige Dokumente aus der Zeit lange vor ihrer Geburt gefunden. Jede Menge Briefe, die von der Geschichte ihres Vaters erzählten.
Minna hatte inzwischen ihr Salatblatt verspeist und noch ein zweites gefunden. Sie sah aus dem Fenster. Inzwischen saß da ein Rabe auf dem Ast, auf dem vorher noch die kleine Meise gesessen hatte.
Prisuch, dachte Minna. Alle Raben heißen Prisuch.
Der Rabe putzte sein Gefieder und sagte: „Krah…“

Ein Rabe?

Ein Rabe, dachte Josefine. Ihr Vater hatte Raben gemocht. Raben und Katzen. Und Ziegen. Schafe. Irgendwie alle Tiere. Sogar Spinnen hatte er gemocht. Josefine erinnerte sich daran, wie er mit ihr vor einem Spinnennetz gestanden hatte, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Er hatte ihr zeigen wollen, wie die Spinne ihr Netz baute. Das fand er spannend. Josefine fand Spinnen eher gruselig. Aber weil sie ihrem Vater gefallen wollte, fand sie Spinnen eben auch interessant.

Es wird Zeit, mein Versprechen einzulösen, dachte sie, klappte das Notebook zu und ging in ihr Zimmer. Alle Unterlagen, die ihr damals wichtig erschienen waren, hatte sie in ihrem Schrank verstaut. Seit Jahren hatte sie sich fest vorgenommen, die Geschichte ihres Vaters endlich zu schreiben, aber immer war irgendetwas dazwischen gekommen.
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, dachte sie, stopfte die Ordner mit Schriftverkehr und Dokumenten in eine Kiste, trug sie nach unten in die Küche und breitete sie auf dem Tisch aus.
Minna beobachtete Josefine interessiert und kletterte auf ihrem Stein unter der Wärmelampe. Da war es nicht nur schön kuschelig, sondern sie hatte auch einen guten Ausblick auf alles, was da auf dem Küchentisch passierte.
Die Zettel auf dem Tisch waren gelb. Daran erkannte man, dass sie ziemlich alt sein mussten. Neue Zettel hatten eine andere Farbe.
Versunken nahm Josefine einen Zettel nach dem anderen in die Hand, blätterte um.
Manchmal seufzte sie tief.
Sie sah berührt aus, fand Minna, während sie sich der Wärme unter ihrer Lampe hingab. Manchmal sah sie etwas Josefines Augenwinkeln funkeln. Eine Träne?

Das Versprechen

„Guten Morgen, Liebling.“
Tom hatte das Schlafzimmer verlassen und fand eine saubere Tasse im Küchenschrank. Er goss sich ebenfalls einen Tee ein. „Josefine, Minna und Katze“, kommentierte er das Bild, das sich ihm bot und setzte sich Josefine gegenüber.
„Ich sehe, du arbeitest?“ Tom sah seine Gattin fragend an. „Was machst du da?“
„Ich sortiere Zettel“, antwortete Josefine ernsthaft.
Tom zog die Augenbrauen hoch, sagte erst nichts und dann: „Aha.“
„Es wird Zeit, mein Versprechen einzulösen“, erklärte Josefine. „Das sind die Unterlagen, die Hinterlassenschaften meines Vaters. Ich habe vor, ein Buch zu schreiben.“
„Aha.“
Etwas anderes schien Tom im Moment nicht dazu einzufallen. Es war auch noch früh am Morgen. Sonntag. Die Informationen zu der Tätigkeit seines Weibchens flossen nur spärlich.
Zu spärlich, um sich einen Reim daraus zu machen.
Tom umschloss seine Teetasse mit beiden Händen. Er mochte die Wärme, den Duft.
„Erzähl mir etwas von deiner Idee“, forderte er Josefine auf. „Was hast du vor?“
„Ich möchte seine Geschichte erzählen. So wie ich Wilhelmines Geschichte erzählt habe. Oder ich lass Minna seine Geschichte erzählen.“
Die Schildkröte hob den Kopf.
Jetzt wurde es spannend, fand sie und verhielt sich still

Ein Kosebock

Josefine sah aus dem Fenster. Der Rabe saß immer noch im blattlosen Pflaumenbaum. Es schien, als beobachtete er das Geschehen in der Küche.
„Oder er bekommen einen Raben“, sagte Josefine. „Ich lass einen Raben seine Geschichte erzählen.“
Tom lachte.
„Zu deinem Vater passt eher ein Ziegenbock“, fand er. „Ein bisschen dickköpfig, ständig mit einem kleinen Schalk im Nacken.“
Josefine dachte an die Ziegen, die im Garten ihrer Mutter die Blüten der Rosen abgefressen hatten.
Ihr Vater fand das witzig. Ihre Mutter nicht.
Sie dachte daran, wieviel Freude ihm seine Koseböcke gemacht hatten. Josefine hatte weniger Spaß mit ihnen. Sie sollte die Ziegen hüten, als ihre Eltern nach Ostpreußen gefahren waren. Ihr Vater hatte ihr erklärt, was sie machen musste, um die Tiere abends von der Weide in den Stall zu bringen. „Binde sie fest“, hatte er gesagt. „Wenn du eine in den Stall führst, kommen die anderen hinterher.“ Josefine sollte die Ziege gut festhalten. „Sie sind neugierig und entdecken überall etwas, was ihnen gefällt“, hatte er dann erklärt. „Dann fressen sie Mutters Rosen“, hatte er augenzwinkernd hinzugefügt.
Und so war Josefine losgezogen, hatte die Stalltür geöffnet und war auf die Wiese gegangen. Sie hatte sich das erste Tier gegriffen und das Seil um sein Halsband gelegt. Und dann war die Ziege mit ihr losgezogen. Kaum, dass sie das Weidentor geöffnet hatte, war das Tier losgerannt. Die Tiere hatten es ganz offensichtlich nicht erwarten können, in ihren Stall zu kommen.
Josefine hatte das Seil nicht losgelassen, war der Länge nach auf die Wiese gefallen und von der Zicke in den Stall gezogen worden. Dort angekommen stand sie still, machte sich zufrieden über die mit Heu gefüllte Futterkrippe her, käute wieder und sah aus, als könne sie kein Wässerchen trüben.
„Ich weiß nicht.“
Josefine war unschlüssig.
„Ich glaube, ich bleibe beim Raben.“