Hund oder Schildkröte?

Zurück in Bernkastel-Kues. Hier hatte alles angefangen. Josefine war mit dem Rad in den Ort gefahren, hatte die Stelle gesucht, bei der sie Ostern so unsanft auf Händen und Knien und schließlich auf ihrem Allerwertesten gelandet war.

Doch so sehr sie sich auch auf dem Marktplatz umsah – da war keine Stufe, über die sie gestolpert sein konnte. Vor dem Juwelier ja. Aber die war doch viel zu nah am Haus? Da konnte sie doch unmöglich hingeraten sein. Oder konnte sie doch?
Sie zuckte die Schultern. Sie hatte den Platz mit dem Brunnen irgendwie anders in Erinnerung. Egal – es war trotzdem ein besonderes Gefühl, zurückzukommen. Sie fand die kleine Weinstube, in der sie mit Tom gesessen und Traubensaft getrunken hatte, den Marktplatz, auf dem sie bei Eis und Kaffee die Sonne genossen hatten.

Die Stelle war nicht mehr da

Eis und Kaffee, das wollte sie jetzt auch. Lieber wäre sie ja mit Tom durch Bernkastel-Kues gestreift, aber bis der kam, das konnte noch eine Weile dauern. Er wollte heute zwei Etappen laufen. Insgesamt 33 Kilometer. Bis 18 Uhr würde er sicherlich unterwegs sein. Schließlich waren sie morgens erst recht spät nach dem Frühstück losgekommen. Da war es bestimmt schon 11 Uhr gewesen.
Na ja – dachte sie. Fahr ich zurück zum Campingplatz. Vielleicht gibt es da auch Kaffee und Eis. Minna würde ihr sicherlich Gesellschaft leisten.

High Heels und ein rotes Röckchen

Sie sah das rote Auto schon von weitem. Kfz-Klüger stand auf dem dicken Audi, der irgendwo quer auf dem Grünstreifen gleich vor dem Campingplatz abgestellt worden war. Dann gingen die Türen auf. Auf der Fahrerseite stieg eine junge Frau mit langen weißblonden Haaren aus. Mit ziemlich hohen High-Heels und sehr knappen Röckchen. Rot. Das Oberteil war nicht der Rede wert und zeigte mehr, als es verdeckte.
Luke hatte zunächst ein bisschen Mühe sich durch die Beifahrertür aus der Blechkiste zu schälen. Die Öffnung war möglicherweise nicht groß genug. Doch dann hatte auch er es geschafft. Strahlend kam er auf Josefine zu. Dicht gefolgt von seiner Begleiterin, die ein großes Kuchentablett vor sich hertrug.

Kaffee und Kuchen

„Ich hatte Lust auf ein Stück Kuchen und da haben wir uns gedacht, wir könnten euch spontan zu Kaffee und Kuchen einladen. Wir würden ja deinen Tom auch gerne mal kennen lernen.“ Luke lächelte gewinnend. „Das ist übrigens Inga. Mein Moselmädchen.“

„Na, dann kommt mal mit“, sagte Josefine und fuhr mit dem Rad voraus zu dem Platz, an dem sie den Bus abgestellt hatte. Dass es nur zwei Stühle gab, war nicht so schlimm. Sie konnte sich einfach auf das Trittbrett in der Schiebetür setzen.
„Bis Tom kommt, das kann noch dauern“, bedauerte sie. „Er ist noch auf dem Moselsteig unterwegs. Ich rechne erst heute Abend mit ihm.“
„Dann könnten wir ja vielleicht zusammen in Bernkastel etwas essen gehen. Ich kenn da ein schönes Lokal. Nicht war Inga?“ Er sah sein Moselmädel um Zustimmung bittend an. Sie nickte.
„Ich bin nicht sicher, ob Tom dann noch irgendwohin gehen mag, wenn er kommt. Die Strecke ist ziemlich anspruchsvoll.“
„Schade“, bedauerte Luke. „Dann essen wir den Kuchen eben zu dritt. Wir lassen dir ein Stückchen für Tom da. Sicherlich haben wir noch ein anderes Mal Gelegenheit, ihn kennenzulernen.“
„Wir habt ihr mich hier eigentlich gefunden?“, wollte Josefine wissen.

Der Aufenthaltsort und Datenschutz

„Na das war nicht so schwer“, grinste Luke. „Ich wusste, ja, dass ihr nach Bernkastel-Kues wolltet. Und so viele Campingplätze gibt es hier schließlich nicht. Wir haben an der Rezeption nach euch gefragt und die haben uns dann gesagt, wo ihr seid.“
Josefine runzelte die Stirn. Alle redeteten von Datenschutz. Alle, bis auf ein kleines Völkchen an der Mosel vielleicht. Oder waren das etwa keine personenbezogenen Daten? Der Aufenthaltsort? Hatte sie nicht das Recht selbst darüber zu entscheiden, wer erfahren durfte, wo sie sich befand und wer nicht? Sie hatte nichts unterschrieben. Keine Datenschutzerklärung und keine Einwilligung zur Weitergabe ihrer Daten.

Andererseits – was war daran schlimm, wenn gute Bekannte erfuhren, wo sie war.

Minna nickt mit dem Kopf. Wissend.

Momentan fand auch Minna nichts Schlimmes daran. Die Schildkröte arbeitete sich aus ihrem Heuhaufen heraus und es raschelte. Sie wusste aber auch, dass es manchmal besser war, dass nicht jeder erfuhr, wo man gerade war. Und ganz besonders Luke nicht. Sie war nicht so zutraulich wie Josefine. Aber sie lebte natürlich auch schon sehr viel länger als sie und wusste daher auch mehr. Sie nickte wissend mit dem Kopf. Vielleicht wiegte sie ihr Köpfchen aber auch skeptisch hin und her. So genau konnte man das nicht erkennen.

„Oh  eine Schildkröte“

„Oh – eine Schildkröte“, sagte Inga strahlend und ihr Blick, mit dem sie Minna ansah, war beinahe zärtlich.
Die ist nett, fand Minna ganz spontan. Sie fühlte sich geschmeichelt.

Josefine griff in das Gehege des Tieres und setzte Minna auf ihren Schoß. „Das ist Minna“, sagte sie dann. „Und sie ist bestimmt schon sehr alt.“ Sie machte eine Pause und sah ihre Schildkröte an. „Und ganz bestimmt ist sie sehr weise.“
Minna nickte mit dem Kopf. Das fand sie auch.

Mir sind Hunde lieber

Luke lächelte nachsichtig. „Mir sind Hunde lieber.“ Er zuckte mit den Schultern. „Auch wenn sie manchmal unberechenbar sind.“
Luke sah seine zukünftige Frau an. „Inga liebt sie. Obwohl sie im letzten Jahr auf dem Hundeplatz von einem Hund angefallen worden ist. Nicht wahr, Inga?“ Inga nickte mit dem Kopf, schob gedankenverloren ihren rechten Zeigefinger vor und streichelte die Schildkröte.
„Ich bin gerade noch rechtzeitig dazugekommen“, erzählte er weiter. „Wenn ich ihn nicht erschossen hätte, hätte er Inga tot gebissen.“
„Sie hat aber auch so noch ziemlich lange in Lebensgefahr geschwebt. Ich hab sie jeden Tag besucht. Und in der Zeit sind wir uns näher gekommen. Danach haben wir dann auch gleich beschlossen, zu heiraten.“
„Und ihr habt immer noch einen Hund? Hast du keine Angst?“, wollte Josefine wissen. Inga schüttelte den Kopf. „Bruno ist lieb.“

Mit Waffe auf dem Hundeplatz

Josefine fand das höchst merkwürdig. Dass man nach so einem Erlebnis immer noch mit einem Hund zusammenleben konnte, war das eine. Dass aber Luke gleich eine Waffe zur Hand gehabt hatte, um das Tier zu erschießen, war ebenfalls höchst sonderbar. Oder war das normal? Hatten die Leute auf einem Hundeplatz, wo Schäferhunde oder vielleicht sogar Kampfhunde abgerichtet wurden, vielleicht immer eine Waffe dabei? Für alle Fälle? Weil die so abgerichteten Hunde am Ende doch unberechenbar waren? Aber dann hätte vielleicht ja auch ein Betäubungsgewehr gereicht?
Josefine kannte das so nicht. Sie war mit ihrem Strolch damals auf einem Hundeplatz gewesen und da hatte niemand eine Waffe. Und es war in all den Jahren auch niemals nötig gewesen.

Inga ist Chef und Minna verspeist einen Regenwurm

Luke hatte inzwischen das Thema gewechselt.
„Ich hab übrigens mit unseren Anwälten gesprochen. Inga ist jetzt Inhaberin der Firma Kfz-Klüger. Sie muss dann auch im Impressum stehen. Und da kannst du dann auch den ganzen Vornamen verwenden.“

Den Grund, dachte Minna. Ich wüsste gern, warum du nicht als Inhaber der Firma in Erscheinung treten und nicht im Impressum deiner Internetseite stehen möchtest. Aber nach mir geht es ja nicht, dachte sie, drehte sich um und sah der Amsel zu, die gerade einen Regenwurm verspeiste.
Fressen und gefressen werden. Minna kannte das Prinzip.