„Ich weiss nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.“
(Georg Christoph Lichtenberg)
Mäuslein steckte die Nase aus ihrem Mauseloch und schnuffelte. Dabei wackelten ihre Barthaare ein bisschen. Alles war ruhig und so setzte es erst das linke und dann das rechte Vorderfüßchen vor den Eingang. Und dann war das ganze Mäusemädchen draußen.
Es grub erst rechts ein kleines Loch und ann links.
Dann hatte es einen Zweig gefunden, der grad lang genug war, um ihn bequem über der Schulter zu tragen.
Die Maus knabberte alle Äste ab und legte den kahlen Zweig zur Seite.
Geschichten. Viele Geschichten
Dann suchte sie ein Blatt. Ein großes Blatt. Und legte es daneben. Sie deponierte ein paar Körner drauf. Und Geschichten. Viele Geschichten. Denn die brauchte sie fast noch mehr als Körner, wenn sie in der weiten Welt überleben wollte.
Das Mäuslein zögerte einen Moment und überlegte. Musste sie die tatsächlich alle mitnehmen? Würde sie unterwegs nicht jede Menge neuer sammeln können? Faszinierende Geschichten, ganz andere, als sie sich jetzt vorstellen kann? Das war doch einer der Gründe, weswegen man ging. Mäuslein wünschte sich spannende Geschichten. Neue Geschichten. Geschichten, die sie überraschten. Zumindest sah alles erst mal anders aus, wenn man es von einer anderen Perspektive aus betrachtete. Von oben zum Beispiel sah man mehr.
„Mensch, Kater, geh runter von der Tastatur“
Mensch hatte auf den warmen Terrassenfliesen gelegen und geschlafen. Mensch hieß eigentlich Sammy und war der Familienkater. Dass er Kater war, wusste er. Dass er Sammy heißt, nicht. Er war überzeugt, er hieße „Mensch“. Schließlich nannten ihn alle so. „Mensch, Kater, nimm die Nase aus der Butter!“ oder „Mensch, Kater, ins Katzenklo, nicht auf dem Rand sitzen und rauspinkeln.“ Manchmal auch „Mensch, Kater, geh von der Tastatur runter. Ich kann so nicht arbeiten.“
Dabei fuchtelten die Leute meist irgendwie mit den Armen in der Luft. Sie konnten das. Denn sie standen auf zwei Beinen. Der Kater nicht. Der musste mit vier Beinen klar kommen.
Gras quietscht ein bisschen beim Wachsen
Nun hatte er auf der Terrasse gelegen und geschlafen. Bis er in der Nähe ein nagendes Geräusch hörte. Er öffnete ein Auge, drehte das links Ohr etwas in die Richtung, aus der das Knabbern kam und wartete ab. Das Nagen hatte aufgehört. Stattdessen hörte Kater kleine Tippelschritte. Sie waren im Gras zwar nur sehr leise, aber Katerchen hatte ein gutes Gehör. Wenn er genau hinhörte, hörte er manchmal sogar , wie das Gras wuchs. Es machte dabei ein Geräusch, das sich für ihn wie Kratzen anhörte, ein leichtes Schaben. Manchmal quietschte es sogar ein bisschen. Nämlich immer dann, es draußen feucht war.
Das Mäuslein packt
Dann hatte er das Mäuslein entdeckt. Es packte. Jedenfalls sah es so aus, als packte es. Es trug Dinge zusammen und wickelte sie in ein großes Blatt. Schließlich verschnürte es das Blatt oben. Womit, das konnte Katerchen nicht erkennen. Das Mäuslein machte das Bündel an einem langen Stock fest, warf es sich über die Schulter und lief los. Auf zwei Beinen. Es lief gerne auf zwei Beinen. Das machte es oft. Katerchen kannte das schon und wunderte sich darüber längst nicht mehr.
Sammy hatte inzwischen auch das zweite Auge geöffnet und beobachtete seinen kleinen Kumpel. Natürlich wusste er, dass Katzen sich im Grunde von Mäusen ernährten. Er sollte ein Raubtier sein und entsprechende Instinkte haben. Doch Katerchen wollte nicht. Er fand das Mäuslein im Grunde ganz nett. Futter gab es täglich mundgerecht im Napf. Wozu also sollte er Mäuse töten. Er war Pazifist und setzte sich für gewaltfreies Fressen ein.
„Ich will weg“
Der Kater reckte sich noch einmal in alle Richtungen und stand auf. Zwei, drei, leichte Schritte und er hatte das Mäuslein eingeholt.
„Mäuslein, warte! Wo willst du denn hin“, fragte Katerchen freundlich. Und neugierig. Denn Katzen sind nun einmal neugierig. Und Kater erst recht.
„Ich will weg“, antwortete das Mäuslein und seufzte tief.
„Warum das denn?“, wollte Sammy wissen. „Gefällt es dir hier nicht mehr?“
„Ach weißt du …“, Mäuslein seufzte ein zweites Mal aus tiefstem Herzen. „Hier sind so viele Mäuse.“
Katerchen legte sein Köpfchen schief. Er wunderte sich.
„Was hast du gegen Mäuse?“, fragte er. „Du bist doch selber eine.“
„Ja, schon…“, Mäuslein zögerte, „aber es sind auch so viele Weibchen dabei.“
„Jetzt versteh‘ ich gar nichts mehr“, staunte Katerchen, lief einmal um das kleine Nagetier herum und schnuffelte unter seinem Schwänzchen. „Du bist doch selber eins“, stellte er dann fest.
„Ja, und deshalb weiß ich auch, wie Weibchen sind“, sagte es. „Sie sind manchmal etwas schwierig. Sie denken zu viel über andere nach, reden zu viel, sind neidisch und missgünstig, ständig gegen irgendetwas und versuchen, der Welt zu beweisen, dass sie sich durchsetzen können. Das ist nicht schön.“
Zank und Tratsch
„Haben sie dich geärgert?“
„Ja. Das heißt, nicht genau mich. Also ich war nicht gemeint. Aber das wusste ich zuerst nicht.
Von Zank und Tratsch war die Rede. Irgendjemand soll irgendetwas über jemand anders erzählt haben. Aber man wusste nicht was und auch nicht von wem. Und erst Recht nicht, über wen.“
„Und da hast du gedacht, du seist gemeint?“
„Ja, hab ich. Zuerst. Weil es schon ziemlich oft irgendwelche komischen Gerüchte über Dinge gegeben hatte, die ich gesagt haben sollte und die sich dann als völlig verdreht wiedergegeben herausgestellt haben.“
„Aber dann hast du erfahren, dass du gar nicht die Böse warst? Dann war doch alles gut, oder?
„Da kann man nur noch die Vorderbeine heben und fiepen“
„Nein, war es eben nicht. Das heißt, ja, war es. Aber nur kurz. Und dann war es schon wieder doof.“
„Was ist denn nun schon wieder passiert.“
„Also, das war so. Jemand hatte etwas falsch gemacht.“
„Das ist doch nicht schlimm. Dann erklärt man ihm, wie es richtig ist und dann ist gut.“
„Aber doch nicht vor allen anderen Mäusen! Ich weiß, wie es sich anfühlt, so vorgeführt zu werden. Das haben die mit mir auch schon oft gemacht. Das ist nicht schön. Natürlich soll man jemandem sagen, wenn er sich geirrt hat und wenn jemand etwas nicht verstanden hat, erklärt man es ihm. Aber wenn alle Mäuse dabei sind und zuhören und zusehen, fühlt man sich schrecklich hilflos. In die Ecke gedrängt. Man kann dann nur noch die Vorderbeine heben und fiepen.“
Vieraugengespräche
„Ja, das ist nicht schön. Sind sie denn alle so?“
Mäuslein wackelte mit seinen Barthaaren. „Nein, eigentlich nicht. Einzeln sind sie ganz in Ordnung. Nur auf einem Haufen sind sie – sagen wir mal – etwas kompliziert.“
„Vielleicht solltet ihr euch öfter mal zu zweit zusammensetzen. Zu Vieraugengesprächen. Mit einer Maus nach der anderen. Lern sie kennen. Persönlich.“
„Ja, das wäre sicherlich eine gute Idee.“
Mäuslein sah sich um. Überall sah sie es huschen. Zweige wackelten, schwarze Knopfnäschen zitterten. Ungefähr 50 Mäuse sammelten Körner, putzten sich, bauten Nester.
„Das schaff ich nicht“, sagte es dann niedergeschlagen. „Es sind zu viele.“
Das Mäusemädchen rechnete. Das konnte man sehen. Die Barthaare zuckten, seine schwarzen Knopfaugen blickten ins Nichts.
„Und es sind immer andere“, sagte es dann. „Bis ich einmal durch bin, das kann Jahre dauern. Und dann sind wieder neue dazu gekommen und ich kann wieder von vorne anfangen. Ich schaff es nicht.“
Mäuschen war betrübt.
„Nein, ich geh woanders hin“, sagte es dann.
Ob es woanders besser ist?
„Meinst du denn, dass es da besser ist?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht anders.“
„Du solltest hier bleiben“, fand Mensch, Kater. Nun sah er traurig aus.
„Wenn ihr euch vielleicht gelegentlich mal auf ein paar Körner trefft, ohne übers Sammeln zu reden und darüber, wo das beste Getreide steht. Nicht über Katzen und wie man sich vor ihnen schützen kann. Sondern einfach vielleicht – Geschichten erzählt, Lieder singt oder was Mäuse sonst gerne machen.“
„Ja, das wäre schön“, sagte Mäuslein und bekam dabei einen ganz verträumten Gesichtsausdruck. „Aber die wollen nicht.“
„Alle nicht?“, staunte Katerchen.
„Wir hatten schon einmal versucht, uns regelmäßig einmal im Monat zu treffen, aber da kam keiner.“
„Das ist schade.“
Katerchen überlegte einen Moment.
„Vielleicht reicht es nicht, einfach nur Ort und Zeit bekannt zu geben. Vielleicht braucht man ein gemeinsames Thema, über das man reden kann. Oder ihr macht etwas Besonderes. Etwas Gemeinsames. Etwas anderes.“
Mit einem Floß über den Gartenteich
„Ja, das wäre vielleicht eine Idee. Wir könnten zusammen Körner rösten. Oder ein Floß bauen und über den Gartenteich schippern.“
„Na, wenn ihr so was mögt?“ Katerchen zog die linke Augenbraue hoch. Er wollte nicht mit einem Floß über den Gartenteich schippern. Sammy schüttelte sich.
„Aber du hast schon Recht: Am besten lernt man sich kennen, wenn man etwas gemeinsam macht.“
„Aber 50 Mäuse sind trotzdem viele“, wandte das Mäusemädchen ein. „Wenn alle mitmachen, ist es ja wieder nur ein großer fremder Haufen, den ich gar nicht richtig kennen lernen kann. Eine so große Gruppe bleibt unpersönlich.“
„Und wenn dann jeder sagen wir mal eine Minute Zeit bekommt, um etwas über sich zu erzählen? Wäre das nicht eine gute Möglichkeit, etwas voneinander zu erfahren? Sich ein bisschen kennen zu lernen?“
Eine Minute lang das Beste von der Maus
„Jeder eine Minute? Das ist dann fast eine Stunde! Eine Stunde lang zuzuhören, wie fünfzig Mäuse sich selbst beweihräuchern und erzählen, wie toll sie sind? Niemand zuhört, weil jede nur darauf wartet, bis sie selbst an die Reihe kommt?“
„Also, dann weiß ich auch nicht, wie ich dir helfen kann.“ Der Kater sah ratlos aus. „Meinst du wirklich, dass es woanders besser ist?“
„Vielleicht nicht. Ich weiß auch nicht einmal, ob es anders besser ist. Aber ich weiß, dass es anders werden muss, wenn es besser werden soll.“