Es muss einfach gut werden – „Think positive!“ versuchte Josefine sich selbst Mut zuzusprechen.
Augen zu und durch, heute Abend das Konzert. Was jetzt nicht sitzt, da nützt auch kein Üben mehr.
Manchmal denkt Josefine an ihre Schulzeit. An ihren Musiklehrer. 40 Jahre ist es inzwischen her. Minderstens. Beim letzten Klassentreffen war Herr Stock tatsächlich noch gekommen. Das war vor zwei Jahren. Wie alt mag der Mann inzwischen sein?
Sein Studium musste er ja damals vor 40 Jahren auf jeden Fall schon beendet haben. Vielleicht war er 30 Jahre alt? Oder 35? Josefine kam er auf jeden Fall uralt vor.
Aber so wirkte er beim letzten Klassentreffen ganz und gar nicht.
Er leitet immer noch seinen Chor. Eine Klassenkameradin von Josefine singt mit. Am Sonntag nach dem Klassentreffen hatte ein Konzert in Preetz stattgefunden. Herr Stock hatte dirigiert.
Tolle Musik.
Ok – Josefines Sänger sind noch ein bisschen älter als ihr Musiklehrer aus Preetzer Zeiten. Aber sie haben Freude am Singen. Das kommt rüber. Auch wenn nicht immer jeder Ton genau so klingt wie er soll.
„Good day sunshine…“ – Josefine hat es noch immer im Ohr. Herr Stock hatte seine Beatles-Platte mit in den Unterricht gebracht und diese Phrase immer und immer wieder vorgespielt.
„Achtet auf die vorgezogenen Schläge – G…oood d…ay s…unshine“ hatte er der Klasse immer wieder vorgesungen und sich dabei vor jedem Einsatz schon mal in Erwartung des nächsten Tones vorgebeugt. Ein bisschen feucht war seine Aussprache, erinnerte sich Josefine. Sie hatte in der ersten Reihe gesessen.
Stock hatte seinen Schülern den Unterschied zwischen dem Belcante, dem „Schöngesang“, in der Klassik und dem, was in der Popular-Musik, in Schlagern, in der Rockmusik den Reiz ausmacht, erklärt:
„Im Belcante geht Ästhetik vor Ausdruck – in der Popular-Musik Ausdruck vor Ästhetik.“ Dieser Satz hatte bei Josefine Spuren hinterlassen. Er war bei ihr irgendwie immer präsent.
Ausdruck – das wars. Persönlichkeit.
Was nützt die schönste Stimme, wenn der Zuhörer die ganze Zeit das Gefühl hat, hier werden nur einzelne Töne produziert. Genau nach Anweisung, Note für Note.
Langweilig.
Dann lieber gelegentlich ein falscher Ton, aber mit Ausdruck und Begeisterung fürs Singen, mit Spielfreude, die den Sängern aus den Augen blitzt. Das ist allemal besser als leblose schöne Töne.
Leblos sind die Töne von den Sängern in Josefines Gesangverein „Vielharmonie“ ganz sicher nicht. Die Rentner stehen auf der Bühne und strahlen. Sympathisch. Liebenswert.
Überhaupt findet Josephine, es ist die Persönlichkeit, die die Ausstrahlung ausmacht. Und die kommt eben erst im Laufe der Jahre. Man kann es hören, wie erfüllt ein Leben war, wie viel Erfahrungen es gesammelt hat. Es sind genau diese Zwischentöne, die beim Zuhörer Gänsehaut verursachen.
„Du sitzt ja immer noch am Klavier“
Michael kam mit seinem Tee aus der Küche.
„Ich krieg das einfach nicht hin. Meine Sänger haben Probleme ihre Stimme zu halten. Wir schaffen es einfach nicht mehr, ein tolles Konzert auf die Beine zu stellen.“
„Quatsch – du bist gut“, findet der Mann, der Josefine liebt. „Was kann denn deinen Sängern schon passieren? Was ihnen an Stimme und Können fehlt, gleichst du doch spielend aus.“
„Schön, dass du so an mich glaubst“, schmunzelte Josefine. „Ich fürchte nur leider, du bist einfach nicht wirklich objektiv. Ich sollte … Klavier spielen und gleichzeitig dirigieren und die Einsätze geben, während ich alleine vierstimmig zu singen habe, um jede Stimme zu unterstützen – das pack ich einfach nicht.“
Josefine guckte auf ihre Hände und hatte das Gefühl, da wo andere Menschen Finger haben, hat sie Würste.
Und der Hocker ist zu hoch.
Oder das Klavier zu niedrig.
Vielleicht ist es aber auch einfach Verspannung.
Vor Lampenfieber, Erwartungshaltung.
Jedenfalls geht das Üben ins Kreuz.
Josefine muss immer wieder aufstehen, ein paar Schritte durchs Wohnzimmer machen und versuchen, sich zur Decke zu strecken.
Was in ihrem Wohnzimmer gar nicht so leicht ist. Also, zu erreichen ist die Decke gut in 2,07 m Höhe. Nur Strecken ist da eben schwierig.
„Entspann dich“, sagte Michael und nahm sein Frauchen in den Arm. „Setz dich nicht so unter Druck. Das bringt nichts. Geh lieber in die Badewanne.“
Josefine spürte inzwischen einfach jeden Knochen. Donnerstag und Montag Chor-Probe mit den Vielharmonie-Senioren, am vergangenen Freitag Probe mit den Mädels und Max nach einer kompletten Arbeitswoche bis um 2 Uhr morgens, genau wie gestern. Die Probe am Donnerstag mit der „Vielharmonie“ war ausgefallen. Josefine sah das mit gemischten Gefühlen. Klar, war es angenehm, den Abend einfach in der Sofaecke verbringen zu können. Aber noch einmal mit den Seniorensängern zu proben hätte eben doch ein besseres Gefühl gegeben. Etwas mehr Sicherheit für die Sänger und für Josefine.
Am Ende hatte sie versucht, die fehlende Probe auszugleichen, in dem sie jede freie Minute am Klavier verbrachte, um wenigstens gleichzeitig die Alt-Stimme singen zu können während sie Klavier spielt. Wenn sie es dann auch noch schaffen könnte so sicher zu, dass sie nicht immer auf Noten und Tasten starren müsste, könnte sie auch ihre Sänger angucken, wann immer es nötig sein sollte.
Jetzt bezweifelte sie, ob das viele Üben wirklich etwas gebracht hat. Denn egal wie viel sie geübt hat, letztendlich ist es eine Frage der Konzentration. Und ob sie die haben würde, wenn sie mit ihrer Rentnerband auf der Bühne stehen würde?
„Und jetzt bin ich erschöpft“, schüttete sie ihrem Ehemicha ihr Herz aus. „Ich hab überhaupt gar keine Kraft mehr zum Singen.“
„Dann lass es doch jetzt einfach“, versuchte Michael sein Weibchen zu überzeugen. „Es bringt mehr für deine Konzentration, wenn du versuchst, dich ein bisschen zu entspannen.“
„Ich muss sowieso noch duschen bevor ich auf die Bühne geh. Damit ich gut riech. Dann kann ich mich genauso gut auch gleich in die Badewanne legen“, überlegte Josefine.
„Also wegen des Geruchs – darüber mach dir mal keine Gedanken. So nah werden dein Publikum und deine Sänger dir ja wohl nicht kommen“, schmunzelte Micha.
Josefine streckte ihrem Göttergatten die Zunge raus und ging die Treppe hoch. Seit sie im vergangenen Sommer zusammen mit Micha in das alte Bauernhaus gezogen waren, hatten die beiden zum ersten Mal ein Bad. Gleich hinter dem Schlafzimmer. Neben dem begehbaren Kleiderschrank. Mit einer Glasschiebetür und dem Gedicht von Berthold Brecht, das die beiden immer noch mit dem Anfang ihrer gemeinsamen Zeit verbinden.
„Der, der mich liebt, hat mir gesagt, dass er mich braucht
darum
gebe ich auf mich acht,
schaue auf meinen Weg
und fürchte von jedem Regentropfen, dass er mich erschlagen könnte“
So stehts jetzt in der Glastür. Josefine hats entworfen und von einem Werbegrafiker in einem hellen glitzernden Silber anfertigen lassen. Wenn die Sonne sich morgens vorsichtig durch das Badfenster stiehlt, sieht sie es direkt vom Bett aus. Und freut sich.
Überhaupt – das Haus ist
ein Traum. Ein echtes Zuhause. Micha muss zwar überall den Kopf einziehen, weil die Decken ein bisschen niedrig sind, aber es ist einfach schön. Heimelig. Mit den uralten Holzdielen, gewachst und geölt, dem freigelegten Fachwerk, der offenen Küche mitten in der Wohnung und einem Bollerofen im Dachgeschoss. Für Micha und Josefine einfach ihr „Schlösschen“.
Manchmal hatte Micha schon geunkt, dass er und Josefine wohl würden ausziehen müssen, wenn das Schlösschen fertig ist, weil das Geld dann hoffnungslos und für immer zu Ende sein würde. Aber bis jetzt war es noch lange nicht so weit. Es gibt aber auch immer noch eine Menge zu tun. „Wir haben noch unser ganzes Leben Zeit, an unserem Nest zu bauen“, findet Josefine und hat Spaß am Planen und Gestalten. Im Türkischen gibt es ein Sprichwort: „Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod“. Das hat Josefine mal irgendwo aufgeschnappt und ist seit dem überzeugt: „Wenn das wirklich so sein sollte, werden wir wohl ewig leben.“
Josefine hatte extra einen Bus früher genommen, um noch ein bisschen vorbereiten zu können. Ihre Sänger hatte sie für Viertel vor Fünf bestellt, damit sie um Sechs wenigstens einmal gemeinsam mit den Projektsängern proben können, bevor es dann ernst wurde.
Die Sänger waren längst da. Aufgeregt wie Kinder vor der Bescherung liefen sie geschäftig vor und auf der Bühne durcheinander. Immer mit irgendwelchen Dingen in der Hand, die man noch irgendwo hinlegen oder arrangieren musste. Das Bild erinnerte ein bisschen an aufgescheuchte Hühner.
„Meine Sänger bitte alle nach vorne“, rief Josefine.
Und dann: „Haaalloooo – hört mich jemand?“
Die Vielharmoniker guckten immer mal wieder zu Josefine und schnatterten aufgeregt untereinander weiter.
Josefine schlug ein paar Tasten des Flügels an. Schön schräg und laut.
Gackernd suchten sich die Sänger einen Platz vor der Bühne in Choraufstellung. Auch die sieben Mädels aus Degerschlacht mit Max tauchten nach und nach auf. Und strahlten.
„Seht ihr mich gut?“, frotzelte Josefine, die am Flügel hinter ihren Singjoren saß. Sie sah lauter adrette Rücken, in weißen Blusen und dunklen Jacketts.
Die Sänger kicherten, als sie sich umdrehten und sich ganz nah an den Flügel kuschelten.
„Jetzt stellt euch vor, im Saal säße das Publikum. Guckt mal – da vorne sitzt Max. Könnt ihr ihn sehen?“
Die Sänger drehten sich wieder um und standen nun vor Josefine und seitlich zum Publikum.
„Wenn wir unseren Kopf etwas drehen, können wir Max sehen“, hörte die Chorleiterin eine Stimme aus dem Chor. Vor ihr – ein ungeordneter Haufen von Männlein und Weiblein. Manche schauten aufmerksam zu ihr her. Andere waren klein genug, um sich in der Gruppe einfach unsichtbar zu machen.
Resigniert stand Josefine auf und sortierte.
„Schön“, sagte sie und versuchte, ihre Sänger so aufzustellen, dass jeder jeden sehen konnte. Auch das Publikum. Die Großen nach hinten, die kleineren… „Die will nicht vorne stehen“, guckte Lottchen hilflos zu Josefine und zeigte mit dem Finger auf Lene.
Josefine seufzte. „Dann stellt euch ein bisschen auf Lücke. Wenn ihr mich seht, seh ich euch auch.“
„Da kommt Bella“, freute sich Gisela und winkte ihrer Freundin zu. Josefine drehte sich um und war erleichtert die Sängerin zu sehen, die da mit kleinen Schritten und etwas außer Atem auf sie zugetrippelt kam. Bella ist 78 Jahre alt und hat immer noch eine wunderschöne Stimme. Normalerweise bei den Proben sitzt sie genau links von Josefine und bei einigen Liedern genießt die Chorleiterin es einfach, die Sopranistin singen zu hören. Und wenn Bella mit ihrer glockenklaren und kräftigen Stimme ihre Lieblingslieder ganz tief aus Bauch und Seele zum Himmel schickt, reißt sie die übrigen Sänger im Sopran einfach mit.
„Schön, dass du da bist“, empfing Josefine die kleine Bella, die ihr grad bis zum Brustkorb reichte, so dass sie irgendwie immer das Bedürfnis hatte, die Kleine an ihr Herzlein zu drücken.
„Ach ich bin auch froh, dass ich da bin und es tut mir so leid, dass ich zu spät komm“, guckte Bella schüchtern zu ihrer Chorleiterin hoch. „Hauptsache, du bist da“, freute sich Josefine.
„Meinem Mann geht es nicht so gut. Der ist schon seit ein paar Tagen ganz komisch. Er wirkt irgendwie ein bisschen – ja ich weiß auch nicht – ein bisschen orientierungslos vielleicht“, schüttete Bella Josefine ihr Herz aus. „Aber er musste doch mit heute. Er wird doch heute für 25 Jahre geehrt.“
Bella guckte hilfesuchend zu Josefine und zuckte die Achseln.
„Ich freu mich jedenfalls, dass du gekommen bist“, nahm die Chorleiterin ihre Sängerin in den Arm und stellte sie an ihren Platz. Gleich neben Lenchen. Für Lenchen hatten die „Vielharmoniker“ sicherheitshalber einen Stuhl bereitgestellt. So lange Stehen schafft sie nicht mehr. Brauchst sie auch nicht. Singen kann sie jedenfalls. Das alleine zählt.
Der Saal füllte sich. Freunde, Angehörige, Nachbarn, die passiven Mitglieder, solche die an diesem Abend geehrt werden sollten und deren Angehörigen. Bürgermeister, Presse und der Präsident des Chorverbands.
Josefine zog mit ihren Sängern auf die Bühne, stellte sich vor sie auf, kontrollierte die Standorte und ob jeder von überall gut zu sehen ist. „Bella will sich nicht hinsetzen“, sah Lisa Josefine hilflos an. „Guck doch – sie kann gar nicht mehr richtig stehen, aber sie will nicht sitzen.“ Und „Komm Bella, wir holen dir einen Stuhl, dann kannst du sitzen.“
Josefine guckte zu Bella. Bella schaute zu Josefine auf. Sie schwankte leicht hin und her. Der Blick war der eines hilflosen Kindes. Ihre Chorkollegen hinter und neben ihr standen parat. Aufmerksam und versuchten, sie aufzufangen, wenn sie kippte. Bellas Blick war auch schon mal klarer.
„Willst du dich nicht lieber hinsetzen? Wir holen dir einen Stuhl“, Josefine guckte besorgt auf ihre Sängerin. „Nein, nein – es geht schon. Ich will singen. Ich steh gut“, lallte Bella.
Die 78-jährige war keinen Meter von ihrem Platz weg zu bewegen. Sie wollte nirgends sitzen. Nicht an ihrem Platz und nicht auf dem Stuhl neben Lenchen.
„Ich kann das“, sprachs und wankte hin und her, vor und zurück.
Josefine fühlte sich in die Zeit zurückgesetzt, als Tom noch klein war. Als er laufen lernte. „Kann alleine“, hatte er sie damals immer entrüstet angestrahlt, wenn sie dem kleinen Kerl helfen wollte. Er hatte ein, zwei Schritte vorwärts gemacht und war dann auf seinem mit Windeln gut gepolsterten Hinterteil gelandet.
Bella war nicht so gut gepolstert und in ihrem Alter außerdem auch viel zerbrechlicher.
„Andrea kannst du dich bitte hinter Bella stellen“, bat Josefine ihre Freundin, die erst seit ein paar Wochen auch regelmäßig zu den Chorproben kam. Andrea war Handwerkermeisterin, ein Typ der anpacken kann und immer genau da ist, wo man sie braucht. Sie baute sich hinter Bella auf und legte den Arm um ihre Schulter. Bella hörte auf zu schwanken und Josefine setzte sich an den Flügel.
„Wochenend und Sonnenschein“ klang es fröhlich aus zwanzig älteren Kehlen.
In etwa zwanzig verschiedenen Tonarten.
Die Sänger waren schon mal konzentrierter. Aber auch Josefines Konzentration lies zu wünschen übrig. Immer wieder gingen die Blicke zu Bella. Und Bella sang. Als gebe es keine Probleme.
Die Probleme hatte Josefine. Sie verpatzte den Einsatz und verunsicherte den Chor. Der schmetterte „Sing mit mir“ und sah aus, als hätte er einfach nur Spaß am Singen. Die Gäste sahen entspannt aus. Nur der Chorverbandspräsident guckte streng. Er sah aus, als gefiels ihm nicht.
Dem Mann von der Presse hatte Josefine noch begeistert erzählt, wie viel Freude allen das Singen macht. Er hatte gefragt, wie und vor allem ob es denn mit dem Gesangverein „Vielharmonie“ noch weiter gehe. Die Mitglieder würden ja immer älter und Nachwuchs gebe es nicht. Dass es weiter geht, hatte Josefine nie infrage gestellt. „Ich leite den Chor, so lange meine Sänger es wollen“,
hatte sie geantwortet. Wenn es denn wegen Männermangel nicht mehr vierstimmig geht, dann eben drei- oder später zweistimmig. „Für immer“ hatte Josefine gesagt und das war ein Versprechen. Für viele ihrer Sänger war der Verein ein Zuhause, ein Halt, ein Zusammenhalt, eine Aufgabe, die sie geistig fitt hielt. Ohne den Chor würden sie schneller abbauen, davon war Josefine überzeugt. Und sie hatte jeden einzelnen inzwischen einfach lieb gewonnen. Dass es auch nach dem 175. Stiftungsfest im kommenden Jahr noch weiter gehen würde, war für sie gar keine Frage. Und wer weiß – vielleicht gibt es mit ein paar neuen Sängern am Ende doch noch eine Perspektive. Man müsste sie ja nicht gleich mit den Senioren mischen. Man könnte vielleicht zunächst einen kleinen Extra-Chor aufbauen und dann… Aber das waren vielleicht auch nur Träume.
Bürgermeister Hase ehrte für lange Treue, soziales und musikalisches Engagement. Bellas Mann nahm seinen Wein mit zittrigen Fingern in Empfang. Josefine betete im Stillen, dass die Flaschen heil an seinem Tisch ankommen würden.
„Memory“ – und Bella wollte sich immer noch nicht hinsetzen. Die starke Stütze Andrea gab ihr Halt. Josefine war sich nicht sicher: Bildete sie es sich nur ein oder schwankte die Sopranistin jetzt noch ein kleines bisschen mehr. Sie machte sich Sorgen. Ein paar der Vielharmoniker tippten auf etwas zu viel Alkohol. Josefine hatte nichts gerochen. Was, wenn es nun ein kleines Schlaganfall oder sonst irgendetwas wäre, wofür man dringend einen Arzt brauchte? Aber Bella wollte ja von allem nichts wissen. Wenn Josefine einfach über ihren Kopf hinweg den Notarzt anrufen würde – Bella würde schimpfen wie ein Rohspatz. Der Notarzt hätte nichts zu lachen. Und untersuchen lassen würde sich die Vielharmonie-Sängerin schon dreimal nicht.
Die Singjoren legten alles an Gefühl in das Lied aus dem Musical „Cats“. Vielleicht waren nicht alle Einsätze und nicht alle Töne wirklich sauber. Aber ein Gänsehautgefühl vermittelten die Sänger dem Publikum mit diesem Stück auf jeden Fall. Auf ihre Weise.
„Du brauchst einen Klavierspieler“, erklärte Micha in der Pause. „Du wirbelst die ganze Zeit wie ein Springball über die Bühne und verteilst da gute Laune. Du brauchst einfach einen Pianisten, damit du besser zappeln kannst“, grinste er. Vor allem der „Mühljung“ hatte ihm gefallen. Josefine sagt immer, bei dem Stück könne man die Sänger nachts um drei aus tiefstem Schlaf wecken und sagen: Jetzt. Mühljung. Und sie würden singen. Jeder seine eigene Stimme. Garantiert. Mit Freude und Ausdruck. Da ist keine Klavierbegleitung nötig, damit die Chorsänger den Ton halten können. Ein Grund für Josefine, dieses Lied immer wieder mit Begeisterung ins Programm zu nehmen. Sie steht dann vor den Sängern, singt selbst aus vollem Halse mit und freut sich darüber, wie jeder sie anstrahlt, jeder seinen Einsatz und den richtigen Ton findet. Deshalb hatte sie es auch diesmal wieder als letztes Stück vor der Pause singen lassen. „Das erste und das letzte Stück muss sitzen, der erste und der letzte Ton ist dabei am wichtigsten“, schärft sie ihren Schützlingen immer wieder ein, denn das sei es, was schließlich beim Publikum hängen bleibt.
„Ja, ein Pianist – wie schön wär das“, seufzte Josefine. „Aber dafür fehlt uns einfach das Geld.“
„Sie soll wieder zurück an ihren Platz gehen.“ Lotte war sauer auf Bella, als die Vielharmoniker sich nach der Pause wieder auf ihre Plätze begaben. „Sie will aber nicht.“
Es sollte schottisch-irisch werden. Mit Segenswunsch, „Loch Lomond“ und Degerschlachter Unterstützung. Die Sopranistinnen, die um Bella herumstanden, guckten ihre Chorkollegin vorwurfsvoll an.
„Ich bleib hier“, lallte Bella trotzig und schaute in Josefines Richtung mit einem Gesichtsausdruck, der sagte, dass sie sich ohne Gewaltanwendung nicht von hier vertreiben lassen würde. „Dann setz dich wenigstens hin“, so der Kommentar ihrer Nebensängerin.
„Nein.“
Sie ist noch blasser als vorhin, dachte Josefine hilflos.
Andrea stand hinter Bella und stützte den Sopran.
Der irische Segenswunsch und „Loch Lomond“.
Dann durften sich die Singjoren erstmal für ein paar Stücke hinsetzen, während Alex und Josefines Mädels ihre frisch einstudierten Stücke sangen. Manche von ihnen hatten vorher noch nie gesungen.
„Schräger als der Gesang der Singjoren kann es ja nicht werden“. Vielleicht wollte Liesa sich ja nur selber Mut zu sprechen, ein bisschen die Spitze vom Lampenfieber nehmen. Josefine gabs trotzdem einen Stich. Klar gibt es perfektere Gesangsensembles. Wahrscheinlich gabs sogar eher wenige, die in so vielen Tonarten gleichzeitig sangen, wie die Vielharmonier. Aber es verletzte dennoch. Schließlich gaben sie alles. Mit Begeisterung und aus dem ganzen Herzen.
Die sechs Mädels um Alex sangen sehr viel besser. Jede fand spielend zu ihrer eigenen Melodie, sie hörten aufeinander, setzten gemeinsam ein, wussten gleichzeitig, wann das Lied zu Ende war, stimmliche Abweichungen gab es so gut wie nicht. Das einzige, was hier noch verbesserungsfähig war, das war vielleicht das stimmliche Volumen. Sollen sie tatsächlich Lust haben, weiterzumachen, kriegen wir das auch noch hin, war Josefine überzeugt. Aber nach dem Abend war sie nicht mehr sicher, ob sie überhaupt noch etwas mit den Singjoren, mit Josefine zu tun haben wollten. Überhaupt nach der letzten Bemerkung.
Die Mädels sangen. Und mit jedem Ton war Josefine begeisterter, was alles in nur drei Probenabenden möglich ist. Jede hatte ihre Stimme sicher und jeder war anzusehen, dass ihr das Ganze einfach einen Heidenspaß machte. Da war der Alabamasong, mit dem Jenny und ihre Mädels zum Überleben die Männer in der „next Whiskeybar“ suchten, die Seeräubergeschichte „Whiskey in the Jar“, in der ein untreues Mädel eine Rolle spielte. Sie schmetterten begeistert ein „Das Leben kann so schön sein, wenn das Wetter danach ist“ von Farin Urlaub ins Publikum, fanden „Urlaub isch schee“ und nahmen damit ein bisschen die schaffige Mentalität der Schwaben auf die Schippe.
Josefine lies sich musikalisch über die Männer aus, hatte ihre ureigene Version von Janis Joplins Mercedes Benz mit im Gepäck und lies zuguterletzt auch noch das Publikum singen. Bis auf den Chorverbandspräsidenten hatten offensichtlich alle einen Heidenspaß daran und sangen begeistert mit. Der guckte weiterhin ernsthaft.
Die letzten drei Stücke schaffen wir auch noch, dachte Josefine, als sich die Vieharmonie wieder vor der Bühne versammelte. Bella hatte ein paar Pommes gegessen. Das Schnitzel lag noch auf dem Teller. Sie wollte aber jetzt auf keinen Fall weiter essen. Im Stehen nicht und schon gar nicht im Sitzen. Sie wollte singen. Im Stehen. War doch klar. Guckte schüchtern zu ihrer Chorleiterin. An ihrer Unterlippe hing etwas. Sah aus wie ein Smartie.
Josefine schloss die Augen, setzte sich ans Klavier. Bis zum letzten Ton. Bekam Blümchen und ging zu Micha und den Schwiegereltern.
„Schön hast du das gemacht“, sagten Michas Eltern.
„Ganz schön mutig“, fanden die übrigen Gäste.
Und dann gab es einen Knall. Bella lag auf den Dielen in ihrem Blut. In der Gaststube saßen die Sanitäter vom Handballverein, riefen Notarzt und Krankenwagen an, versorgten die Sopranistin, legten sie in die stabile Seitenlage.
Wie ein Häufchen Elend lag sie da. Von der trotzigen Schnute war nichts mehr übrige. Trotz war vorbei, sie fügte sich in ihr Schicksal. Bella hatte sich ihr Schnitzel einpacken lassen wollen, hatte auf dem Weg in den Gastraum zum Tresen die Kurve nicht gekriegt und war unterwegs mit dem Kopf auf die Tischkante geknallt.
Josefine war fast ein bisschen erleichtert. Damit war ihr die Entscheidung abgenommen in der Frage – Notarzt rufen oder nicht. Nun kam er doch. Und Josefine fand es beruhigend, dass nun jemand da war, der wusste, was jetzt richtig war, der das richtige tun konnte, weil er herausfinden konnte, was Bella fehlte.
„Ganz schön mutig, mit solchen Sängern überhaupt noch auf die Bühne zu gehen“, hörte sie von ihren Freunden im Publikum. „Wir finden das richtig anerkennenswert“, sagten sie und wollten wissen,
wie selbstsicher man wohl sein musste, um in der Lage zu sein, den eigenen künstlerischen Anspruch völlig hintenan zu stellen, um die alten Menschen trotz ihres Verfalls auf die Bühne zu bringen, glücklich zu machen.
Josefine schämte sich.
War das Recht? Durfte ich meine Singjoren so vorführen, der Kritik aussetzen? Überlegte sie.
„Mach dir keinen Kopf“, sagte der Lieblingsehemann. „Die Leute, die heute hergekommen sind, wussten doch, was sie erwartet. Für die war es prima. Es war ein tolles Programm, ein wirklich gelungenes, unterhaltsames Fest.“
Unterhaltsam. Auf dem Rücken der Vielharmoniker? Eine Lachnummer? Hatte sie den Zeitpunkt verpasst, zurückzustecken? Hatte sie ihre Sänger einfach überfordert?
Josefine guckte sich um. Gabi hat Krebs, Dieter hat sich bereits die Stimmbänder entfernen lassen müssen, Heinz ist dement, Rolf im vergangenen Jahr gestorben und Georg liegt mit Schmerzen, die kaum auszuhalten sind, zu Hause. Hatte sie den Verfall einfach nicht mitgekriegt? Andererseits – dass sie gefordert werden, gemeinsam auf der Bühne stehen können – das ist es, was ihnen das Leben noch lebenswert macht. Wer will da sagen: „Ihr seid zu alt – Hört auf!“ Wem steht das zu? Doch niemandem! So lange sie wollen, bin ich da, dachte Josefine an ihr Versprechen. Bis dass der Ton uns scheide…
Trotzdem – Vielleicht hätte sie das Programm etwas Kräfteschonender gestalten sollen. Im nächsten Jahr zum großen Vereinsjubiläum, dem 175. Geburtstag des Gesangsvereins, wird sie es anders angehen. Einfach drei oder vier sichere Stücke der Vielharmoniker, Lieder, die sie im Schlaf können. So wie den „Mühljung“. Den Rest wird sie mit Gästen gestalten. Hätte der Pressemann sie nach dem Konzert gefragt, wie es weiter geht, Josefines Perspektive fürs nächste Jahr wäre vermutlich weniger positiv ausgefallen.
Ein Jahr ist lang für einen so betagten Chor. In einem Jahr kann viel passieren. Etwa zehn Sänger weniger als bei Josefines Start vor vier Jahren waren es inzwischen. Zwanzig Aktive standen jetzt noch auf der Bühne. Wer weiß, wie viele davon beim nächsten Stiftungsfest noch singen können.
Josefine tat einen Riesenseufzer und dachte, es ist vielleicht grad gut, dass der Pressemann vor dem Konzert mit mir gesprochen hat und nicht jetzt. Was geht’s die Zeitungsleser an, wie es wirklich ist? Was geht’s die anderen Gesangvereine an, die schon seit Jahren darauf warten, dass der Gesangverein „Die Vielharmonie“ sich auflöst. Den Triumpf gönnte sie ihnen nicht. Auch, wenn die meisten anderen Vereine, deren Vorstände und Chorleiter wirklich total lieb waren. Aber eben nicht alle. Und in der Stadt gab es schon so etwas wie Konkurrenz und man hoffte auf eine Art natürliche Marktbereinigung. Die Vereine in den Teilgemeinden rund um Reutlingen waren da einfach schon anders. Da hatte man wirklich das Gefühl, dass alle miteinander an einem Strang zogen. Wobei – die Chorleiter der städtischen Vereine waren schon auch klasse – Musiker eben. Man half und unterstützte sich gegenseitig.
Aber trotzdem – es ist eben nur der ein Superheld, der sich selbst für super hält. Oder es zumindest es zumindest selbstbewusst behauptet. Das erste und das letzte Stück sind wichtig, dachte Josefine. Und da hats gepasst.
„Kommt ihr mit? Wir trinken bei uns noch ein Glas Rotwein und lassen da den Abend gemütlich ausklingen“, sagte Bettina.
Schöns fuhren mit. Max war dabei. Josefine war sehr still. Trank ein Glas Rotwein und dachte an ihren Vater. Die Menschen so nehmen wie sie sind. Nicht nur ihre Eigenheiten akzeptieren, sondern sie respektieren. Manchmal ist das einfacher, manchmal schwerer.
***
„Hast du heute schon was vor?“
Josefine lachte. „Bis gerade eben hatte ich noch nichts weiter vor, aber ich vermute mal, jetzt bin ich verplant?“
„Hier in Reutlingen gibt es einen Gesangverein. Inzwischen ist er 170 Jahre alt und es gibt Gerüchte, dass er nun wegen stimmlichem Haarausfall aufhören muss. Die Sänger sind uralt, der Zahn der Zeit nagt an ihnen und damit an der Substanz des Chores. Die Chorleiterin will wohl auch aus Altersgründen aufgeben. Kannst du da vielleicht was draus machen? Vielleicht unter der Headline „Ist dieser Chor noch zu retten?“ oder „Spezies vom Aussterben bedroht“ oder so ähnlich?“
Alexander Feucht war deutlich anzuhören, dass er solche Gesangvereine einfach nur lächerlich fand. Und erst Recht, wenn die Leute alt waren. Es hörte sich an wie „ist ja nett, wenn die gerne singen, aber sie sollten das doch still und leise zu Hause tun und nicht noch Leute wie ihn oder anderes musikalisch interessierte Publikum damit belästigen“.
Josefine fands witzig, wie Alexander über die „Vielharmonie“ redete und hatte den Artikel im Kopf schon fast fertig. Schnell noch einen Termin mit dem Vorstand machen, ein paar Zitate, Stimmung, Atmosphäre sammeln und dann ab in die Zeitung damit.
***
„Nach unserem Stiftungsfest ist wohl Schluss“, erzählte Rudi Sierk und sah dabei ziemlich traurig aus.
„Unsere Chorleiterin gibt aus gesundheitlichen Gründen auf. Sie ist auch nicht mehr die jüngste“, erklärte er. „Genau wie wir.“
Der 70-Jährige bekam richtig leuchtende Augen, als er Josefine von längst vergangenen Zeiten erzählte. 1960 war er zu seinem Gesangverein gekommen. „135 Sänger waren wir damals.“ Rudi Sierk seufzte hörbar, machte eine Pause und guckte verträumt zum Fenster hinaus in den Garten, bevor er Josefine wieder ansah. „Jetzt sind wir noch 20 Frauen und neun Männer.“
Irgendwie würden sie sicher auch in anderen Chören unterkommen, wenn es die „Vielharmonie“ nicht mehr geben würde. Davon war der Vorsitzende, der genau wie seine übrigen Chorkollegen auch längst schon Rentner war, überzeugt.
„Aber es wird uns einfach etwas fehlen“, sagte er.
„Würden Sie denn gerne weiter machen?“, fragte Josefine. Sie hatte doch gerade vor ein paar Monaten die Prüfung zur staatlich geprüften Chorleiterin an der Musikhochschule bestanden. Bisher hatte sie noch gar nicht so richtig nach einem Chor geguckt, mit dem sie die ersten Erfahrungen sammeln können würde. Sie hatte sich auch noch nicht richtig getraut. „Ich weiß jetzt wie es geht, aber es zu können ist etwas ganz anderes“, hatte sie immer wieder augenzwinkernd erklärt, wenn sie danach gefragt worden war, wie es denn nun weiter geht.
„Klar würden wir gerne.“ Rudi Sierk guckte überrascht. Hatte die Frau denn nicht zugehört?
„Aber wie denn? Wir sind alt, haben keine Chorleiterin mehr und irgendwie auch nicht mehr die Kraft, wieder zu suchen und von vorne anzufangen.“
„Also, das ist so…“, begann Josefine und erzählte, davon, dass sie singt, seit sie ein ganz kleines Mädchen war und wie viel ihr das immer bedeutet hat, erzählte von ihrer Chorleiterausbildung und wie gerne sie jetzt doch mal ausprobieren würde, was sie gelernt hatte. „Vielleicht, wenn Sie mögen…ich könnte es ja mal probieren. Über das Honorar lass ich gerne mit mir reden. Ich kanns ja noch gar nicht richtig und würde ja erst noch üben. Deshalb wär für mich eine Art kleines Ausbildungshonorar vollkommen ok…“, Josefine stammelte ein bisschen vor sich hin und guckte den Vorsitzenden der „Vielharmonie“ schüchtern an.
„Ja, wenn Sie meinen…“ Rudi Sierk war die Hoffnung im Gesicht geschrieben. „Also ich weiß ja nicht, ich müsste ja erstmal mit den anderen sprechen… aber ich glaube ja schon… Also, die würden bestimmt gerne… Das wär einfach wunderbar.“ Der „Vielharmonie“-Vorsitzende redete sich in Begeisterung.
Als Josefine ging, waren die beiden sich einig. Rudi Sierk würde nach dem Stiftungsfest bei der Hauptversammlung seine Sänger fragen. Und wenn die einverstanden wären, könnte es los gehen.