Ab in den Urlaub

Josefine öffnete die Augen. Es war Samstag. Ihr erster Urlaubstag. Sie hatte es geschafft. Bis um 21 Uhr hatte sie am Abend vorher noch am Schreibtisch gesessen und die letzten Kundenaufträge bearbeitet, die eigenen Internetseiten DSVG-konform gemacht, damit sie der neuen Verordnung standhalten würden, die am 25. Mai in Kraft treten würde. Nach dem Urlaub wäre die Zeit bis dahin vermutlich zu knapp.

Jetzt war der Schreibtisch aufgeräumt. Alles war erledigt. Bis auf diesen merkwürdigen Auftrag eben, den sie an der Mosel übernehmen sollte. Für Josefine war das ok. Tom würde laufen. Sie konnte sich diesen Klüger mal ansehen. Und dann herausfinden, was er nun tatsächlich wollte. Irgendwie war ihr der Telefonanruf suspekt gewesen.

Sie drehte sich auf die andere Seite. Neben ihr schlief Tom. Zwischen ihnen saß der Kater und schnurrte, während Tom ihm offensichtlich noch im Halbschlaf den Hals kraulte. Die Sonne schien. Es war Ende April und draußen war es sommerlich warm. Bis Sonntag würde es mindestens noch so bleiben.

Der erste Urlaubstag

Leise stand Josefine auf und tappte barfuß in die Küche. Es war noch früh und sie hatten alle Zeit der Welt. Es war völlig egal, wann sie los kamen. Sie mussten schließlich nicht um eine bestimmt Zeit irgendwo sein. Mit ihrem Dipa-Mobil waren sie unabhängig. Josefine konnte also ganz in Ruhe erstmal Kaffee trinken. Frühstücken. Ein bisschen planen. Toms Moselsteig-Tour noch einmal angucken. Überlegen, wo es schöne Plätze gab, wo sie mit dem Reisemobil übernachten konnten.

Bei Klüger wollte sie sich melden, sobald sie irgendwo in der Gegend um Piesport herum waren. Seinen Vornamen wusste sie immer noch nicht. Auf der Visitenkarte mit dem Logo, die er ihr geschickt hatte, hatte nur L. Klüger gestanden. Aber im Grunde war das ja erstmal noch nicht wichtig. Spätestens für das Impressum der Webseite würde er ihr seinen Vornamen sagen müssen.

Wo geht’s lang?

„Guten Morgen“, begrüßte Tom seine Frau, nahm sich einen Kaffee und setzte sich zu ihr.
„Alles gut?“, fragte er mit einem Blick auf die Karten, die Josefine vor sich ausgebreitet hatte.
„Ja, alles gut“, antwortete sie. „Ich guck mir gerade noch mal die Gegend um Start und Ziel deiner Moselsteig-Etappen an. Ich hab mir gedacht, ich fahr einfach mit. Wir übernachten, wo du ankommst, du läufst morgens los und ich fahr zum nächsten Etappen-Ziel und warte da auf dich.“
„Plan doch nicht so viel“, schüttelte To den Kopf. „Wir fahren einfach los. Der Rest wird sich finden. Vielleicht gibt es da ja auch öffentliche Verkehrsmittel, mit denen ich fahren kann. Dann könnten wir immer ein paar Tage irgendwo bleiben.“
Er nahm Josefine die Unterlagen aus der Hand, faltete die Karte zusammen und legte sie weg
„Jetzt können wir frühstücken“, erklärte er und begann, den Tisch zu decken

Mit Insulin – aber ohne Katheter

„Ich muss nachher noch mal zur Apotheke“, sagte Josefine. „Die haben für mich Insulin bestellt.“
„Ach – diesmal fahren wir mit Insulin los?“, neckte Tom sein Weibchen. „Das ist schön.“
Dafür aber ohne Katheter und Reservoire, dachte Josefine, aber sie sagte nichts. Sie wollte ihren Lieblingsehemann nicht beunruhigen.
Sie hatte schon vor einer Woche das Pumpenzubehör bei ihrem Lieferanten bestellt. Als es am Freitag immer noch nicht da war, war es ihr komisch vorgekommen. Die lieferten sonst immer ziemlich schnell. Ein Blick auf den Lieferstatus unter „Meine Bestellungen“ des Online-Anbieters hatte die Sache schließlich geklärt: Josefine hatte mal wieder viel zu schnell geklickt, ohne vorher durchzulesen, was sie da bestätigte.

Falsche Lieferadresse

Bestätigt hatte sie nun eine alte Lieferadresse zu einem Haus, in der sie vor knapp zehn Jahren mal gewohnt hatte.
Das Pumpenzuhör war ausgeliefert worden. Die neuen Besitzer des kleinen Häuschens hatten das Päckchen zurückgehen lassen. Nun wusste der Lieferant nicht, was er damit weiter machen sollte.
Sie gab die neue Adresse noch mal ein, bestätigte die Bestellung, meldete sich ab und schloss das Browserfenster.

Als Josefine aus der Apotheke zurückkam, ging sie als erstes hoch ins Schlafzimmer und zählte ihre Schätze.
Wenn nichts dazwischen kam, kein Reservoire, kein Katheter kaputt ging oder irgendwie verstopft war, müsste es klappen.
Und wenn doch?, fragte ein leises Stimmchen in ihrem Kopf.
Josefine wischte den Gedanken weg. Ich denke darüber nach, wenn es so weit ist, dachte sie. Es könnte schließlich auch reichen. Notfalls müssten sie halt zurück fahren. Bis dahin würde das Pumpenzubehör an der richtigen Adresse schon angekommen sein.
Insulin jedenfalls hatte sie diesmal genug.
Josefine schnappte sich Pumpenzubehör und alles, was sonst noch für ein unkompliziertes zuckersüßes Leben nötig war, ging die Treppe herunter, zurück in die Küche, wo Tom inzwischen nur noch auf Josefine wartete.

Was ist mit Minna?

Er war fertig. Das Auto war gepackt, die Räder auf dem Fahrradanhänger.
„Wir können los“, sagte er, als Josefine in die Küche kam. Dann sah er das ganze Zeug in ihren Armen.
„Können wir los?“, fragte er deshalb zweifelnd.
Josefine sah zu Minna in ihrem Terrarium und zögerte.
„Fehlt noch etwas? Ist alles in Ordnung?“, fragte Tom besorgt. Josefines Gesichtsausdruck gefiel ihm nicht. Der verhieß nichts Gutes.„Was machen wir mit Minna?“, fragte sie nach einer Weile.
„Jan kann sie doch versorgen“, sagte Tom.
Josefine sah einen Moment nachdenklich aus.
„Können wir sie nicht einfach mitnehmen?“

Minna hatte aufgehört, an ihrem Salatblatt zu knabbern und starrte Josefine und Tom an. Reisen war nicht wirklich das, wofür die Schildkröte sich begeistern konnte. Vielleicht sollte mal jemand Minna fragen, ob sie überhaupt Interesse daran hatte, an die Mosel zu fahren.
Andererseits – da gab es Wasser. Und an der Mosel war sie noch nie. Aber mit dem Reisemobil? Das war nicht wirklich die Art von Fortbewegung, die sie mochte.

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Das ist nicht dein Ernst!“ Tom sah seine Frau ungläubig an und schüttelte den Kopf.
„Wie stellst du dir das vor? Das Terrarium wird während der Fahrt durchgeschüttelt, rutscht im Fußraum hin und her. Glaubst du, das würde Minna gefallen? Und wo soll sie hin, wenn wir schlafen? Vielleicht zu uns ins Bett? Wenn das aufgeklappt ist, wird es mit Terrarium im Fußraum eng. Und falls wir nachts mal raus müssen, treten wir erstmal in Minnas Wasserbecken. Vielleicht ist ja kein Wasser mehr drin, weil es während der Fahrt längst herausgeschwappt ist.“

Minna zog bei der Vorstellung erstmal erschrocken den Kopf ein.

„Nein, ich will das nicht. Das ist dämlich“, schimpfte Tom weiter.
„Also, ich hab mir das so vorgestellt …“, begann Josefine.
Du brauchst überhaupt nicht weiter zu reden“, wehrte Tom ab. Er fand die Idee einfach nur dämlich. „Ich will es nicht.“

Minna hatte den Kopf wieder ein Stück aus ihrem Panzer geschoben und schaute aufmerksam von einem zum anderen.
Es wäre schon spannend, dachte sie. Sie wäre bei Toms und Josefines Abenteuer an der Mosel dabei und würde es hautnah miterleben. Ändern würde sie nichts können. Aber spannend wäre es schon, dabei zu sein.
Sie wusste, wer Luke Klüger war.
Und eigentlich, fand sie, war es schade um ihn.
Die Schildkröte blinzelte einmal und starrte Josefine und Tom weiter an. Sie wartete auf die abschließende Entscheidung

Hinterm Rücksitz

„Ich hab mir das so gedacht“, fuhr Josefine unbeirrt fort und ihre Stimme klang butterweich.
„Unser Bettzeug verstauen wir in der oberen Etage. Dann kann das Terrarium mit Minna während der Fahrt auf die Ablage hinterm Rücksitz. Da steht es auch sicher und verrutscht nicht, weil es von der Rückenlehne gestützt wird. Und wenn wir irgendwo bleiben, kann Minna raus. Unter die Markise. Da hat sie es schön.“

Ja, da hab ichs schön, dachte Minna zweifelnd. Sie war sich nicht sicher.

„Ich weiß nicht …“ Toms Stimme klang schon nicht mehr ganz so streng.
„Ich hab ja schon von Hunden gehört, die auf Campingplätzen erlaubt sind. Und in Frankreich haben wir ein Mädchen mit ihrer Katze im VW-Bus getroffen. Aber eine Schildkröte? Ich wüsste nicht, ob das erlaubt ist. Ich hab noch nirgends etwas darüber gelesen.“
„Ach bitte, sag ja“, säuselte Josefine.
„Und was machen wir, wenn es nicht erlaubt ist?“

Minna sah nun ein bisschen besorgt aus, wie sie von einem zum anderen guckte. Sie hatte von Hunden gehört, die man ausgesetzt hatte, weil man in den Urlaub fuhr. Aber Tom und Josefine würden nicht … Jedenfalls nicht Minna … Sie würden doch nicht, oder?

„Ich glaube nicht, dass es problematisch ist. Wir machen es einfach. Sei mal ein bisschen verrückt. Mach mal was anders als alle anderen.“
Tom seufzte. Irgendwie kriegte Josefine immer, was sie sich wünschte. Er konnte ihr einfach keinen Wunsch abschlagen.
„Also gut. Versuch macht kluch. Wenn es irgendwo Schwierigkeiten gibt, suchen wir uns einen anderen Stellplatz. Wir werden schon etwas finden.“
Josefine jubelte und umarmte ihren Mann stürmisch.
„Du bist ein Schatz“, strahlte sie.

Ab in den Urlaub

Schnell packte sie alles zusammen, was sie für ihre Schildkröte brauchte und verstaute es im Bus. Tom nahm das Terrarium.

„Ab in den Urlaub“, zwinkerte sie Tom zu und schloss die Tür.

„Haben wir ein schönes Hörbuch?“
„Haben wir!“ Tom startete den Motor und im Autoradio begann Christian Tramitz den Semmelknödelmord aufzuklären.