42 heißt’s sei der Sinn des Lebens und die Antwort auf alles.
Fienchen sieht das anders.
Sie findet die Zahl eher blöd. Weil 42 Grad wär ihr jetzt zu warm, auch wenn sie inzwischen genug hat vom Winter. Und 42 Grad Körpertemperatur wär das endgültige aus. Obwohl – dann wären alle Probleme ebenfalls … – na ja, wenn auch vielleicht nicht gelöst, aber die hätte dann jemand anders.
Fienchen findet gut, was Tom sagt: „Guck dir die Katzen an“, sinniert er. „Die kümmern sich um das Wesentliche: Schmusen, schlafen, schlecken, schmausen.“ Die Ruhe, die sie dabei ausstrahlen wirkt ansteckend.
Katze müsste man sein, seufzt Fienchen.
Katze bei Börner. Die hats gut.
Fienchen ist aber nun Mensch.
Tom auch.

„Wie spät ist es?“
„Bitte?“ Tom guckt verstört von seinem Computer auf. Er hatte es fast. Der Code war fast vollständig, in der Formel fehlte noch eine einzige Variable.
„Ich muss noch im Institut anrufen. Aber vor 15 Uhr ist da keiner.“
Tom guckte aus dem Fenster. Sonne satt. Nicht ein einziges Wölkchen über den Dächern der alten Bauernhäuser in der Dorfmitte. Das kleine weiße Kirchlein strahlte im hellen Sonnenschein. Tom starrt die große Uhr an, die vielen Dorfbewohnern hier mit ihrem Gebimmel ein Dorn im Ohr ist. Alle Viertelstunde schlägt sie und das ist eigentlich immer.
„Dong, dong, dong, dong – blong, blong, blong…“

Syntax error – piiiiep

Code hochladen und testen.
Syntax error – piiiiep…
Ach ja, da fehlte noch eine Variable. Mindestens eine…
„Kann ich dich mal stören?“
Frau Müller hatte Herrn Schmiedel am Telefon und der wollte mit dem Chef sprechen.
„Was will er denn?“
„Warte mal, ich frag eben…“
„Gib ihn her, jetzt ist es eh egal…“ Tom gab sich geschlagen. Jetzt musste er sich eh wieder neu in das Programm reindenken. Da konnte er genau so gut mit Herrn Schmiedel telefonieren.
Herr Kunde will das Bremsentestprogramm morgen vorstellen. Das Programm läuft noch nicht rund. Syntax error – piep kommt bei der Präsentation nicht gut an.

Der Hund müsste raus

Fienchen zählt derweil am Schreibtisch nebenan Soll und Haben zusammen. Die Zahl, die am Ende dabei heraus kommt, scheint ihr ein bisschen sehr hoch zu ein. Abziehen, nicht addieren, denkt sie. Und dann hat sie noch eine ganze Seite mit Auswertungen übersehen. Das verändert das Ergebnis komplett.
Was sich nicht verändert, ist ihre Sorge.
Der Hund müsste raus, denkt Fienchen. Geht aber jetzt nicht. Der Steuerberater kommt in einer Stunde. Die Bilanz ist noch nicht fertig vorbereitet.
Gut ist nicht gut genug. Börners sind bekannt dafür, dass immer alles passt. Geht nicht gibt’s nicht. Fehler auch nicht. Darf es nicht geben. Die Existenz hängt davon ab. Den Mitbewerbern immer eine Nasenlänge voraus, besser sein als die anderen. Das ist das Geheimnis des Erfolgs des kleinen Mittelständlers.
Fienchen findet, dass Tom blass um die Nase herum aussieht. Das macht, dass es ihr schwer fällt, nur die Zahlen zu addieren, die sie addieren soll. Ohne das Datum dazuzuzählen oder ihr Alter.

Der Kluge gibt nur den gebetenen Rat, der Weise nicht einmal diesen

Oben in der Wohnung über den Büros sind inzwischen Schritte zu hören. Seit bei Klara der Diabetes festgestellt wurde, wohnt sie wieder zu Hause. Um ihre Werte in den Griff zu kriegen, isst sie nichts. 56 Kilo bei einer Größe von 1,72 m findet Fienchen grenzwertig.
„Ich geh mal hoch und guck mal, wie es Klara geht“, erklärt Fienchen. Sie ist unruhig. Sie möchte wissen, ob die Tochter ihren Blutzucker gemessen hat, sie möchte wissen wie es Klara geht. Das Mädel merkt doch gar nicht mehr, wenn sie eine Unterzuckerung kriegt, so wenig wie sie isst.
„Halt dich raus, sie muss selber lernen, damit umzugehen“, hält Tom sie zurück. „Wir hatten uns doch darauf geeinigt: Klaras Krankheit – Klaras Sache.“
„Ja, du hast ja Recht“, seufzt die mitleidende Mutter.
Das Kind ist erwachsen.
„Der Kluge gibt nur den gebetenen Rat, der Weise nicht einmal den.“
Das hatte Fienchens Vater immer gesagt.
„Halt dich raus, dann kommst du in nichts rein“ – so hatte sie sein Zitat lange interpretiert. Man kann es aber auch anders sehen: Jeder Rat, jede Hilfe hindert den Betroffenen, seinen eigenen Weg zu finden, macht ihn klein.
„Ich weiß ja, dass du Recht hast, aber es ist so schwer.“ Fienchen guckt Tom in die Augen und sieht, dass es ihm grad so geht wie seinem Weibchen: Er macht sich Sorgen. Er ist zu nah dran.
„Lass uns auswandern.“ Tom nimmt Fienchen in den Arm.

„Lass uns auswandern.“

Südafrika, Kanada oder wenigstens eine Berghütte in den Alpen oder eine kleine Nordseeinsel – Fienchen seufzt sehnsüchtig.
Fienchen und Tom stehen in der Küche. Von unten schallt das Telefonklingeln die Treppe hoch. Fienchen und Tom träumen von einem Leben ohne.
Aus dem Bad hört man die Dusche rauschen. Klara ist aufgestanden.
„Es is ja wie es is“, flachst Tom, grinst, gibt seinem Weibchen einen Klaps auf den Hintern und verschwindet die Treppe runter an den Schreibtisch.

Fienchen macht sich einen Kaffee und setzt sich auf ihren Lieblingsplatz in der Küche: Den Ohrensessel von Tante Christel mit Blick auf den Holunderbusch bei den Nachbarn. Warum kommt es mir vor, als sei früher alles einfacher gewesen?, überlegt sie.
Es hat sich doch nichts verändert. Es ist wie es ist, wie es immer war.
Tom ist der gleiche wie früher. Fienchen hatte für gute und schlechte Tage unterschrieben. Und früher gab es die auch schon. Also beide Sorten: Gute und Schlechte. Genau so wie heute. Nichts Neues.
Im Geschäft war’s wie immer. Alle wollten alles gleichzeitig und Tom arbeitete nachts, weil dann niemand mehr an ihm zerrte, kein Telefon mehr klingelte.
Und Klara? Ein einfaches Kind war sie nie. Einfach war langweilig. Einfach kann jeder. Klara war immer schon etwas Besonderes. Das Beste, was Fienchen je passiert war – aber eben auch eine Herausforderung.

Früher war alles besser.

Was war also früher anders?
Fienchen hatte mehr Inseln.
Sie hatte ihre Musik, Proben, Auftritte, kam raus und dann wieder mit vielen Eindrücken nach Hause und sah Familien-Alltag aus einer ganz anderen Perspektive, konnte viel leichter loslassen. Ihr Arbeitsplatz war bei einer Bank im Nachbarort. Beruf und Familie waren getrennt, als Ausgleichssport und zum Stressabbau hatte sie die Musik.
Das wars.
Damit, dass seit ein paar Jahren nun alle unter einem Dach lebten und arbeiteten hatten sich die Grenzen verwischt. Alles war immer und überall präsent. Nix mehr mit Inseln. Die gelegentlichen Verabredungen ohne Tom waren keine Hilfe.
Die Band gab’s nicht mehr und Fienchen mochte ihre Arbeit in Toms Firma.

„Ich hab eine Idee…“

„Ich hab da so eine Idee…“, fing Fienchen an. Sie war mit Tom bei ihrem Lieblingsitaliener. Die Pizza war gegessen, der Rotwein leuchtete im Glas.
Tom bekam einen Schreck. Den bekommt er immer, wenn Fienchen so anfängt.
Er nahm sein Glas in die Hand und nahm einen großen Schluck, um sich gegen das, was sich da in Fienchens Kopf zusammenbraute, zu wappnen.

„Auswandern wär schon toll…“, sinnierte Fienchen. „Weg von allem. Ganz neu anfangen. Ohne Computer vielleicht, ohne mitzukriegen, was zu Hause so läuft…“
„Wir werden Hüttenwirt?“ die Idee hatten die beiden schon oft – aber eigentlich war das eher ein Traum, eine Fantasievorstellung wie sie sich aus dem Alltagsstress einfach ausklinken könnten. Andere haben das geschafft und tatsächlich umgesetzt. Also warum sollten Tom und Fienchen nicht auch…
„Ok – das wäre die langfristige, die endgültige Lösung vielleicht“, schmunzelt Fienchen.
„Aber weg wär auf jeden Fall gut. Geschäftliches und Privates trennen. Nicht mehr mitkriegen, was oben in der Wohnung läuft, uns auf die Arbeit konzentrieren und abends nach Hause kommen können.“

Schon wieder umziehen?

„Das hatten wir doch schon. Willst du tatsächlich wieder umziehen? Ich fand nicht, dass es besser war. Nur anders. Ich hab genau so Arbeit mit nach Hause genommen und nachts gearbeitet, weil ich den ganzen Tag am Telefon als Trouble-Shooter beschäftigt war und für jeden ansprechbar sein musste. Hier etwas erklären, da eine Entscheidung treffen.“
„Ich hab mir gedacht, wir arbeiten woanders. Nur wir beide. Wir gucken, dass wir uns irgendwo ein kleines Büro mieten können. Wir könnten Peter fragen, ob er ein Zimmer für uns hat, oder Marita oder Axel, wenn seine Scheune fertig ist. Ich wäre nicht mehr immer mit einem Ohr bei Klara und könnte einfach ganz bei der Sache sein, die ich gerade mache und würde mich auf zu Hause freuen, wenn ich Feierabend mache. Und du könntest vormittags für dein Team und die Kunden da sein. Mittags würden wir gemeinsam irgendwo eine Kleinigkeit essen und du könntest in unserem Bürole ungestört ohne Zwischenfragen oder Telefongeklingel arbeiten. Und nachts könntest du dann schlafen statt zu arbeiten.“

Tags arbeiten und nachts schlafen

„Klingt gut“, überlegt Tom, „ich glaube aber nicht, dass das funktioniert. Wie soll das denn gehen? Ich müsste von da aus Zugriff auf unser Netzwerk haben, es müsste Internet und Telefonanschluss geben und ich weiß nicht, ob ich das unseren Freunden zumuten möchte. Außerdem empfinde ich das als Eindringen in deren Privatsphäre.“
„Vielleicht hast du Recht“, lenkt Fienchen ein. „So wirklich durchdacht ist meine Idee ja auch nicht. Sie ist eben erstmal eine Idee. Vielleicht wird ja ein Plan draus, wenn wir noch ein paar Nächte darüber schlafen und sie in unserem Kopf reifen lassen.“
„Wir werden sehen. Ich hätte da jetzt aber auch eine Idee…“
Fienchen ist neugierig: „Und welche?“
„Wir bestellen uns noch einen Kaffee, fahren nach Hause und machen es uns da noch ein bisschen gemütlich“, sprach’s und grinst.